West-Berliner Subkultur
19. Februar 2013Nach Jahren der Zurückgezogenheit veröffentlicht Popkünstler David Bowie einen neuen Song, der tief in die Vergangenheit blickt. Nachdenklich klingt er, ein bisschen traurig. Bilder vom alten West-Berlin, seiner Wohnung in der Schöneberger Hauptstraße tauchen auf. Heute gibt es dort eine Zahnarztpraxis. Viele Kneipen und Clubs von damals, der legendäre "Dschungel" und der Punktreff "Risiko", sind verschwunden.
West-Berlin fand vor allem nachts statt
Claudia Skoda war eine gute Bekannte von David Bowie. Über seinen Videoclip zum neuen Song freut sie sich trotzdem nicht. Zu traurig und zu düster. Sie erinnert sich mit Freude an das West-Berlin der 70er und 80er Jahre, an eine Stadt, in der man "nach dem Lust-Prinzip" arbeiten konnte - ohne den finanziellen Druck, der heute herrsche. Die Modeschöpferin hat 1973 ihr eigenes Label gegründet - längst ist sie mit ihrer Strickmode international erfolgreich. Zum Interview kommt sie im cremefarbenen Skoda-Mantel, langem grauen Skoda-Pulli und mit dem Airedale Terrier Bliss, der ebenfalls aussieht wie selbst gestrickt. Statt in der wilden, alten Kreuzberger Fabriketage in der Zossener Straße produziert sie nun in Mitte und beschäftigt auch eine Subunternehmerin. Wenn sie vom alten West-Berlin erzählt, ist es die Geschichte ihrer Jugend, an die sie gern, aber ohne Nostalgie zurückdenkt.
Das Leben habe vor allem nachts stattgefunden, erzählt Claudia Skoda. In Clubs, die damals noch Diskotheken hießen, wie dem "Park" und später dem "Dschungel". Psychedelische Musik, Live-Konzerte, im Morgengrauen Absacker in einer der Queer-Bars und danach zum Italiener am Ku'damm zum Torte essen. Die Designerin schmunzelt. "In Berlin gab es ja keine Sperrstunde." Zu den Party-Nächte gehörten auch politische Diskussionen, die Prozesse gegen die RAF, die Punkbewegung und die Hausbesetzerszene waren Gesprächsthema.
Und dann gab es noch die Mauer - mitten durch die Stadt. Der Osten war fern und gleichzeitig ganz nah. In West-Berlin konnte man Nachrichten aus dem Westen und aus dem Osten hören. Auch das Sandmännchen kannten die Berliner in seiner Ost und Westversion. So etwas gebe es heute gar nicht mehr, "dass die Welt nebenan gleich ganz anders ist".
Blick zurück
Wolfgang Müller hat gerade ein Buch über die West-Berliner Subkultur geschrieben. 1500 Exemplare ließ der Verlag drucken. Nach drei Wochen waren sie vergriffen. Auf knapp 600 Seiten bietet der Autor ein Kaleidoskop aus Geschichten, Momentaufnahmen und Reflektionen - nicht wehmütig oder glorifizierend, sondern lebendig und oft skurril.
Eine seiner Lieblingsgeschichten: Das Zusammentreffen von Karl Lagerfeld und Sunshine, einer schillernden Außenseiterin mit zerrissenen Strumpfhosen und "Schmuck-Accessoires aus Konsumabfällen". Im "Kumpelnest 3000" veranstaltete der Mode-Zar damals ein Shooting und bat Sunshine um ein Glas Wein aus ihrer 2-Liter-Flasche, ein Model sollte damit posieren.
Viel Raum zum Entfalten
Wolfgang Müller, ein unprätentiöser Typ - Klischees und einfache Erklärungen scheut er. Damals hat er Kunst studiert, doch war ihm der West-Berliner Galeriebetrieb zu konservativ. "Aus Notwehr" begann er Musik zu machen. "Die Tödliche Doris" hieß die experimentelle Band, die er Anfang der 80er zusammen mit Nikolaus Untermöhlen und Chris Dreier gründete. Beim "Festival Genialer Dilletanten" (ja, mit doppel-l und einem t) im alten Berliner Tempodrom probierten sie sich aus.
Dieser freie, wenn auch manchmal amateurhafte Geist ist es, der die West-Berliner Subkultur auszumachen schien. Hoch subventioniert, dabei aber doch vernachlässigt, bot die Stadt Künstlern oder solchen, die sich dafür hielten, einzigartige Möglichkeiten der Entfaltung. Auch für Bundeswehrflüchtlinge war West-Berlin ein Sammelbecken. Wer hier gemeldet war, konnte nicht eingezogen werden. Touristenscharen gab es noch nicht, aber immer wieder kamen Leute aus dem Ausland, wie auch David Bowie, die neugierig auf das Leben in der Frontstadt waren.
Wolfgang Müller, geboren in Wolfsburg, meint, West-Berlin sei vor allem für diejenigen ein Zufluchtsort gewesen, die den "ökonomischen Verwertungsdruck", der Westdeutschland in den 80er Jahren zu regieren begann, nicht so toll fanden. So hatte die Mauer auch Vorteile - auf ihrer Westseite entstand ein Biotop für alternative Lebensformen.
Auch heute ist Berlin für die Leute anziehend, die experimentieren wollen - sei es im Nachtleben, in der Kunst oder bei beruflichen Projekten. Ob es immer noch genauso möglich ist wie damals, ist eine andere Frage. Vieles, was in den 80ern noch als skandalös und punkig galt, ist heute in den Mainstream eingeflossen. Neben den Lebenskünstlern haben auch Investoren die Stadt für sich entdeckt. Die bringen zwar Geld, lassen aber auch die Preise steigen.
Und, wo sind wir jetzt?
Wolfgang Müller sagt, ein Ort, in dem die guten Seiten des alten West-Berlins noch leben, sei das "Galerie Studio St. St. " in Neukölln, ein nicht leicht einzuordnendes Etablissement zwischen Galerie, Cabaret und Salon. Die Trans*-Betreiberin Juwelia habe ein Talent dafür, die Leute einfach als Menschen anzunehmen und nicht darauf zu schauen, "ob die Schuhe teuer oder billig sind".
Ein kleines, leuchtend-buntes Schaufenster strahlt in der Mitte der Sanderstrasse. Drinnen: eine rosa-schimmernde Welt, große und kleine Gemälde an den Wänden. Sie zeigen Kuchen, feiernde Menschen, lange gewinkelte Beine in Strümpfen, Champagner-Flaschen, fast alle gemalt von der Gastgeberin. Juwelia begrüßt ihre Gäste persönlich, schlichte Stoff-Hose, langes, blondes Haar, ein neugieriger, erfreuter Blick.
Sie bedauert, dass es an dem Abend keine Show gebe, es sei nicht genug los. Das Klavier im hinteren Raum bleibt still. Amüsant ist es trotzdem: bei Pink-Panther-Platten, rosa Sekt und einer eine Woche alten Geburtstags-Schoko-Torte. In Satin-überzogenen Sesselchen und Sofas, kommt man ins Gespräch. Ein Pärchen aus London schaut vorbei, erzählt, dass es plant, morgen ein Graffiti in Mitte zu hinterlassen. Getränkekarten gibt es keine, man trinkt was gerade da ist und zahlt dann in eine Dose ein. Gegen ein Uhr steht man beschwipst auf der Straße, sicher, einen zauberhaften Ort entdeckt zu haben. Ach ja Berlin, wir lieben dich auch heute.