Das Leid der Flüchtlinge in Polen und Belarus
13. November 2021Seine Augen sind blutunterlaufen, rundherum tiefblau ins lila gehend, die Nase noch immer etwas schief.
Youssef Attalah, 37, stammt aus Damaskus. Jetzt sitzt er an einem Tisch in einer Unterkunft für Geflüchtete irgendwo in Polens Grenzregion zu Belarus. Der genaue Ort soll unbekannt bleiben, zu groß ist die Angst der Trägerorganisation vor rassistischen Angriffen. Davor, dass sich die Wut der Anwohner auf die entlädt, die hier Schutz suchen.
Misshandlungen an der Grenze
In den vergangenen Monaten ist die Zahl der Menschen, die über Belarus nach Polen - und in die Nachbarländer Litauen und Lettland - kommen, rasant gestiegen rasant gestiegen. Die EU beschuldigt den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko, die Migranten gezielt aus dem Irak, aus Syrien, aus Afghanistan und anderen Ländern über Minsk an die östliche Außengrenze der EU zu schleusen.
Auch Youssef Attalah sagt, er sei mit verschiedenen Taxis von Belarus aus an die polnische Grenze gekarrt worden. Zuhause in Syrien hatte man ihm weisgemacht, dass alles ganz schnell und reibungslos gehen würde. Seine Wunden beweisen das Gegenteil.
Attalah erzählt, dass der polnische Grenzschutz ihn mehrmals zurück auf die belarussische Seite geschickt habe. Es sei aber ein belarussischer Grenzbeamter gewesen, der ihm seine Verletzungen zugefügt hätte. "Er hat mir ins Gesicht getreten, hier einen Knochen gebrochen", sagt er und zeigt auf seine rechte Wange. "Meine Rippen tun immer noch weh. Als er mich zum ersten Mal geschlagen hat, bin ich für ein paar Minuten bewusstlos geworden. Trotzdem hat er mich nochmal getreten, hat mir mein Freund später berichtet."
Mit Visum nach Belarus
Auch Thaer Rezk hat in derselben Unterkunft Zuflucht gefunden wie Youssef Attalah. Der 29-jährige Syrer steht rauchend draußen auf dem Hof. Ein Schwarm von Tauben schreckt auf, als sich ein kleines Mädchen im Grundschulalter in der Nähe auf einen Stuhl in der Sonne setzt.
Rezk ist gelernter Elektriker. Doch in Syrien habe er für sich keine Zukunft mehr gesehen. Es gebe keine Hoffnung mehr in einem vom Krieg zerstörten Land. Rezk erzählt, er habe über Freunde bei Facebook erfahren, dass er über Minsk nach Europa kommen könne. "Ich habe in einem Reisebüro in Damaskus gefragt: 'Wie kann ich ein Visum für Belarus bekommen?‘ Und die sagten mir, ich solle einfach zur belarussischen Botschaft gehen."
Auch Rezk berichtet, dass ihn die Grenzschützer in Belarus getreten und geschlagen hätten. Er und Youssef Attalah hoffen nun beide auf Asyl in der EU. Eine Hoffnung, die auch die Menschen hegen, die noch auf der belarussischen Seite der Grenze festsitzen.
Umstrittene polnische Pushbacks
Polens nationalkonservative PiS-Regierung will verhindern, dass auch diese Menschen ins Land kommen. Seit Oktober gilt in Polen ein Gesetz, dasZurückweisungen an der Grenze legalisieren soll. Menschenrechtler und die Vereinten Nationen halten diese Praxis für rechtswidrig und für einen Verstoß gegen internationale Regeln. Die Sprecherin der regionalen Einheit des polnischen Grenzschutzes sieht das anders. Polen müsse seine Grenze schützen, sagt Katarzyna Zdanowicz der DW. "Belarus organisiert diese Reisen. Polen ist für die Menschen nicht das erste sichere Land, das sie betreten. Sie kommen aus der Türkei oder aus anderen Ländern hierher. Wir können diese Menschen nicht einfach in diesem Gebiet an der Grenze lassen. Das sorgt für Chaos in Europa, bringt den Frieden hier in Gefahr."
Für Journalistinnen und NGOs ist es schwer zu überprüfen, was tatsächlich auf der polnischen Seite der Grenze passiert, da Polens Regierung eine Sperrzone entlang des Grenzstreifens eingerichtet hat. Wer diese Zone betritt, muss mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe rechnen. Patrouillen von Polizei und schwer bewaffneter Armee bewachen die Zugangsstraßen.
Die Menschen werden ihrem Schicksal überlassen
Hinein dürfen nur Menschen, die innerhalb des Sperrgebiets wohnen. Joanna Lapinska etwa, die ein Häuschen direkt an der Grenze zu Belarus besitzt. Seit Monaten verbringt sie ihre gesamte Freizeit damit, den Migranten und Geflüchteten zu helfen. Mit Wasser, Lebensmitteln, Decken. Weil sie nicht einfach ihre Augen davor verschließen könne, was vor ihrer Haustür geschehe, sagt sie. Aber auch, weil sich sonst niemand um diese Menschen schere. Nicht das Militär, nicht die Polizei, nicht die Regierung.Auch Menschen, die es über die Grenze schaffen, sitzen oft in der dicht bewaldeten Sperrzone fest. Flüsse, moorige Landschaften, wilde Tiere stellen eine Gefahr da. Aber noch bedrohlicher sind der Mangel an Nahrungsmitteln - und vor allem die Minustemperaturen. Mindestens acht Menschen sind bereits gestorben. Erst vergangene Nacht soll ein weiterer vierzehnjähriger Jugendlicher erfroren sein.
"Wir brauchen medizinische und humanitäre Hilfe hier", sagt Lapinska. "Sofort, aber auch auf lange Sicht. Wir können diese Menschen doch nicht einfach in diesem Gebiet an der Grenze sich selbst überlassen." Doch bisher sieht es nicht danach aus, als ob die polnische Regierung unabhängigen Beobachterinnen Zugang zur Grenze gewährt. Bis dahin ist es zumindest für Journalisten vor Ort fast unmöglich zu erfahren und darüber zu berichten, was dort wirklich vor sich geht.