"Das Maß ist voll"
27. Juli 2013Vom ersten Tag an ist Kiril mit dabei. Nur an drei Tagen hat er es nicht geschafft, an den Demonstrationen teilzunehmen. "Die Politiker haben die Grenze überschritten. Es ist genug. Wir fordern einen radikalen Wandel der politischen Kultur", sagt Kiril Todorov, der in Sofia als Systemadministrator arbeitet.
Der Druck der Straße steigt. Es ist Tag 42 der Proteste in Bulgarien und die Menschenmassen ebben nicht ab. Ob jung oder alt, arm oder reich, ob mit oder ohne Universitätsabschluss - es ist ein Massenprotest, ein Protest der Enttäuschten.
"Das Schlimmste war, dass die Menschen in den letzten Jahren zunehmend apolitisch und gleichgültig wurden. Nach dem Motto: Die Politiker machen was sie wollen, ich kann eh nichts daran ändern", erzählt Miladin Hadzhiev, Biologe aus Sofia. Auch er gibt zu, für Politik habe er sich überhaupt nicht interessiert. Früher. Das habe sich nun geändert. "Dieses gesellschaftliche Erwachen, das wir jetzt hier auf dem Platz sehen, ist der größte Erfolg der Protestbewegung", sagt Miladin.
Die Maßlosigkeit der Politik
Mit der Ernennung von Delyan Peevski zum Chef der bulgarischen Sicherheitsagentur kippte die Stimmung im Land. Der 33-Jährige ist ein mächtiger und einflussreicher Medienmogul, ihm werden illegale Machenschaften und Kontakte zur Mafia nachgesagt. "Ich dachte zunächst, seine Ernennung ist ein Scherz", sagt Kiril. An jenem Abend, dem 14. Juni 2013, kamen spontan die ersten Demonstranten im Zentrum von Sofia zusammen. Nach einer Woche trat Peevski zurück, doch das Feuer war längst entfacht.
Auf dem Korruptionsindex von Transparency International belegt Bulgarien seit Jahren einen der letzten Plätze und gilt damit als eines der korruptesten Länder der Europäischen Union. Beispiele von Korruption in der Politik gibt es viele. Vor ein paar Jahren sorgte etwa eine öffentliche Ausschreibung für mediales Aufsehen. "Es ging um den Kauf von technischem Equipment für staatliche Institutionen", erzählt Todor Galev, Wirtschaftsexperte am Zentrum für Demokratiestudien, einem unabhängigen bulgarischen Think Tank. "Die Anforderungen an diese Technik stimmten zu 100 Prozent überein mit dem Angebot einer konkreten Firma. Die Autoren der Ausschreibung haben im Grunde die technischen Beschreibungen der Geräte aus den Unterlagen jener Firma kopiert - samt Fehlern und Formatierung." Das sei kein Einzelfall in Bulgarien, bei dem öffentliche Aufträge an ausgewählte Firmen ohne einen fairen Wettbewerb erteilt würden.
Die Wirtschaft erholt sich
"In den ersten Tagen der Proteste haben die Politiker versucht uns zu beruhigen, indem sie gesagt haben, sie würden die Preise für Strom senken, die Renten und Gehälter erhöhen. Sie haben nicht kapiert, dass das nicht unsere Forderungen sind", sagt Miladin, der jeden Tag demonstrieren geht.
Die Proteste ereignen sich in einer Phase, in der sich die bulgarische Wirtschaft spürbar erholt. "Das vergangene Jahr war ein gutes Jahr für ausländische Direktinvestitionen, insgesamt sind die Investitionen das erste Mal seit drei Jahren gestiegen, der Export entwickelt sich auch gut - trotz der Krise in Europa.", sagt Latschesar Bogdanov von der Nichtregierungsorganisation Industry Watch.
Der Bankensektor ist stabil, das Haushaltsdefizit lag vergangenes Jahr bei einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Schuldenstand ist der zweitniedrigste in der EU. Doch so lobenswert die Zahlen auch sind, Bulgarien ist das ärmste Land in der Europäischen Union. Bei knapp 200 Euro liegt der Mindestlohn: "Während westeuropäische Länder auf stabiles Wachstum bedacht sind, brauchen wir ein schnelles Wachstum, damit die Wahrnehmung positiv ist. Wir müssen noch viel nachholen", sagt Wirtschaftsexperte Bogdanov.
Parallelen zu den Protesten in Spanien, Portugal oder Griechenland sieht er jedoch nicht. In Bulgarien gab es beispielsweise keine Kürzungen der Sozialleistungen, selbst in der Krise nicht. "Deswegen ist dieser Protest nicht wirtschaftlicher Natur. Die Mehrheit der Demonstranten ist berufstätig und nicht von Sozialleistungen abhängig."
Protest in der Sackgasse?
Aber wie geht es weiter? Die Demonstranten haben nicht vor aufzuhören und die Politiker denken nicht an Rücktritt. Die Nervosität steigt auf beiden Seiten. Eine konkrete, politische Alternative bietet die Protestbewegung nicht, aber das scheint auch nicht ihr Ziel zu sein: "Wir sind nicht naiv. Wir wissen, dass sich die Situation nicht von heute auf morgen ändern wird.", sagt Miladin. Aber die Politiker - ehemalige und zukünftige - wüssten jetzt ganz genau, dass ihnen nun eine selbstbewusste neue Zivilgesellschaft gegenüber stehe, die sie genau beobachten werde.