Das Gezi-Opfer und die Wut der Menge
13. März 2014Zehntausende versammelten sich am Mittwochmittag in der Nähe des alevitischen Gotteshauses im Istanbuler Stadtviertel Okmeydani. Die unübersehbare Menschenmenge drängte zur Beerdigung des 15-jährigen Berkin Elvan. 269 Tage lag der Junge im Koma, ein Geschoss der Polizei hatte ihn vergangenes Jahr während der Gezi-Park-Proteste am Kopf getroffen. Medienberichten zufolge war er kein Demonstrant, sondern wollte nur kurz vor die Tür, um Brot zu kaufen. Das kostete ihn das Leben. Berkin wog noch 16 Kilo, als er am Dienstagmorgen starb. Er ist das achte Todesopfer der Proteste gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan. Unter den Opfern ist auch ein Polizist.
Die Mutter des verstorbenen Jungen gab dem Ministerpräsidenten die Schuld am Tod ihres Sohnes. "Nicht Gott hat mir meinen Sohn genommen, sondern Erdogan!", sagte sie weinend gegenüber Journalisten. Präsident Abdullah Gül sprach der Familie sein Beileid aus. Mit der Zusicherung "alles zu tun, damit so etwas nicht wieder passiert", wird er von der türkischen Zeitung Hürriyet zitiert.
Bunt gemischte Menschenmasse
Berkins Tod zieht die Menschen wieder auf die Straßen und belebt die Regierungsproteste im ganzen Land. In Ankara, Istanbul, Izmir und anderen Städten kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizeikräften. Es wurden Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt.
Auch nach der Beerdigung marschierte die aufgebrachte Menge durch die Istanbuler Innenstadt. Studenten und Eltern mischten sich ebenso unter die Demonstranten wie Anhänger verschiedenster Parteien: Von den türkischen Kommunisten (TKP), der kurdennahen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der kemalistischen Türkischen Jugendvereinigung (TGB) bis zur Arbeiterpartei und den Anarchisten. Auf Plakaten wurden Fotos der Verstorbenen gezeigt.
Berkin Elvan wird zum Symbol
Ministerpräsident Erdogan und seine Regierung wurden in Sprechchören als "Mörder" bezeichnet. Die Demonstranten kündigten weiteren Widerstand an. "Seit Gezi-Park kämpfen wir hier alle zusammen auf der Straße. Berkins Tod und der Tod aller Opfer sind ein Symbol für uns und unseren Widerstand", sagt Emir Kılıcı von der Taksim-Solidaritätsplattform der DW. Er spricht von einem Volkswiderstand gegen eine "faschistische Regierung" und bezeichnet Erdogan als Diktator. "Diese Diktatur breitet sich im ganzen Land aus, ohne jegliches Schamgefühl. Nach all der Korruption fühlt sich die Regierung nicht einmal in der Verantwortung, der Nation eine Erklärung zu liefern. Wir werden immer wieder auf die Straße gehen, um gegen die AKP-Diktatur zu demonstrieren", sagt der Demonstrant wütend.
Sinan Birecik von der kemalistischen Türkischen Jugendvereinigung (TGB) empört sich ebenfalls über das "faschistische Verhalten der Regierung" und über die Polizei, die die Demonstranten attackiert. Die Demonstrationen kämen aus dem Volk, sagt er, und man werde "durch die kommenden Wahlen beweisen, dass die Regierung für ihre Handlungen bezahlen muss".
Das einzige, was die Demonstranten sich wünschten, sei der Rücktritt der Regierung, sagt der 25-jährige Student Efe Özal im DW-Gespräch. "Solange das nicht passiert, werden wir weiterhin auf die Straße gehen." Dem schließen sich auch die Anhänger der kurdennahen HDP an.
Ein Polizist stirbt im Tränengas
Die Polizei hatte während der Demonstrationen Straßen blockiert. Am frühen Nachmittag setzte sie Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Menge zu zerstreuen. Demonstranten berichten von Plastikkugeln, die von der Polizei abgeschossen worden seien. Im Gegenzug warfen Demonstranten Pflastersteine und Feuerwerkskörper auf die Sicherheitskräfte. Die Istanbuler Innenstadt glich einem Kriegsschauplatz. Demonstranten errichteten Barrikaden und zündeten Müllhaufen an.
Viele Menschen suchten Zuflucht in Einkaufszentren, die jedoch auch mit Tränengas beschossen wurden. Die türkische Zeitung Hürriyet berichtet am späten Abend von einem Polizisten, der in einer Tränengaswolke einen tödlichen Herzinfarkt erlitten habe. Mehrere Menschen mussten in Krankenhäusern behandelt werden.
Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisiert die Polizeigewalt in der Türkei und die fehlende Ermittlung im Fall Berkin Elvan: "Polizeigewalt gegen Demonstranten ist ein endemisches Problem in der Türkei. Eine Kultur der Straflosigkeit ist verwurzelt. Berkin Elvan, der Junge im Koma, der nie aufwachte, wurde zum Symbol für die türkische Polizeigewalt und das Fehlen von Verantwortlichkeit. Berkin und seine Familie verdienen Gerechtigkeit."