Das Programm des Papstes
26. November 2013Mit einem sehr persönlich gehaltenen Schreiben legt Papst Franziskus eine Programmatik für sein Pontifikat vor. Das katholische Kirchenoberhaupt aus Lateinamerika nennt das herrschende Wirtschaftssystem "in der Wurzel ungerecht" und fordert Veränderungen. Und zugleich fordert er die katholische Kirche nachdrücklich zu Veränderung und einem neuen Geist der Offenheit auf. Es gehe um missionarische Ausstrahlung und um Dezentralisierung, um mehr Engagement für eine gerechte Welt.
Im Kern vermisst Franziskus geradezu schmerzhaft missionarische Begeisterung in der katholischen Kirche. Sie habe sich vielfach hinter verschlossenen Türen eingerichtet und müsse wieder hinaus unter die Menschen. Die Kirche müsse ein offenes Haus sein, stets offene Türen haben. Aber häufig "verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer".
Das Gesetz des Stärkeren
Franziskus prangert eine "Wirtschaft der Ausschließung" und "soziale Ungleichheit" an und beklagt "soziale Ungerechtigkeit. Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach den Gesetzen des Stärkeren ab, wo der Mächtige den Schwächeren zunichte macht". Große Massen der Bevölkerung seien so ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: "ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg", der Mensch an sich "als Konsumgut". Da spricht aus den Worten jenes Papstes, den die Menschen im wohlig-warmen Europa bestaunen, geradezu die dramatische Analyse, aus der die sogenannte Theologie der Befreiung Lateinamerikas erwachsen ist.
Und in diesen lateinamerikanischen Kontext gehören auch manche Anmerkungen zur kirchlichen Struktur. "Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen." Recht früh in dem Dokument kommt Franziskus auf die Autorität in der Kirche. Und spricht von Neuausrichtung – ein halbes Dutzend mal taucht der Begriff binnen weniger Seiten auf, wo es um Papst, Bischof und Papst geht. In einer der zentralen Passagen des in offizieller Fassung gut 180 Seiten langen Dokuments thematisiert Franziskus auch eine "Neuausrichtung des Papsttums" und spricht nicht einmal mehr nur vom "Papstamt".
Offen für Verbesserungsvorschläge
Franziskus erinnert daran, dass schon Johannes Paul II. (1978-2005) - bereits 1995 in seiner Ökumene-Enzyklika - um Hilfe bat, eine neue „Form der Primatsausübung“ zu finden. "In diesem Sinne sind wir wenig vorangekommen", zeigt sich Franziskus ernüchtert und stellt damit vielen Papsttheologen ein schlechtes Zeugnis aus. Er sei offen für Vorschläge, damit das Papstamt treuer zu Jesus werde und den gegenwärtigen Notwendigkeiten besser entspreche.
Gut acht Monate nach seiner Wahl zeigt der 76-jährige Franziskus also seine weitere große Linie auf. Dabei macht der Blick über das noch junge Pontifikat schon eine Entwicklung deutlich. Ende Juni gab es eine Enzyklika – doch das Schreiben "Lumen Fidei" (Licht des Glaubens) war eine Hinterlassenschaft des Vorgängers Benedikt. Tatsächlich bedeutete die Enzyklika nach gut 100 Tagen im Amt vielleicht den Endpunkt einer Phase der Beobachtung und Analyse. Seitdem handelt Franziskus in Worten und Zeichenhaftigkeit deutlicher, ja drastischer. Beispiele sind der Besuch bei Flüchtlingen auf Lampedusa, der Inhalt des großen Interviews mit Jesuitenzeitungen oder auch die innige Nähe zu Behinderten und Kranken.
Sensationelle Passagen
All dem spürt der jetzige Text jetzt nach. Denn letztlich pocht Franziskus darauf, dass jeder einzelne Christ, jede Gemeinde so handeln könne und solle. Der Text ist über weite Strecken als sensationell zu bewerten; in der zweiten Hälfte verliert das Dokument gelegentlich an Spannung. Neben der Liebe kommt immer wieder die Rede auf den Begriff der Freude, der dem Dokument auch den Titel gibt "Evangelii Gaudiu", "Freude des Evangeliums".
An mehreren Stellen formuliert Franziskus klare Absagen, so beim Nein zu jeder Abtreibung und bei der Frage der Priesterweihe der Frau. Aber der Blick darauf eröffnet, bei welchen Themen Franziskus eben Raum lässt. Kein Nein zur Frage einer Weihe verheirateter Männer (der sogenannten viri probati), kein Wort zur Frage eines Diakonenamtes der Frau. Und manche Passage lässt an die in Deutschland so heiß diskutierte Frage eines Sakramentenempfangs wiederverheirateter Geschiedener denken: Die Kirche könne eigentlich nicht Sakramente zuteilen oder verweigern, "auch die Türen der Sakramente dürften nicht aus irgendeinem beliebigen Grund geschlossen werden". Das sind geradezu Kampfansagen an all jene, für die es schlicht so bleiben soll, wie es immer schon war.