Das Recht des Stärkeren
4. März 2004Es ist ein Geheimtip, in Peking oder in Shanghai einfach das Fahrrad zu benutzen. Autos sind nur noch eine Plage und Staus ein Dauerzustand. Mehr als zwei Millionen Autos soll es in der Hauptstadt geben. Multipliziert mit dem abenteuerlichen Fahrverhalten und dem Fehlen jeder Regelung durch die Polizei, wirken die Blechkisten wie zehn Millionen.
Radfahren ist nicht nur ein Sportersatz für Großstadtmenschen, sondern in Peking auch ein Labsal für die Seele. Das Fahrrad ist das Vehikel des stillen Anarchismus. Wohin auch immer den Ausländer die lange Nase weist, dorthin kann er den Lenker seiner "Fliegenden Taube" richten: links auf der Straße, auf dem Bürgersteig, durch Parks und Höfe, in die Hutong-Viertel. Dabei ist er auch ständig in Lebensgefahr. Der Wettkampf mit den Autofahrern ist mörderisch. Und beim Überholen anderer Radfahrer ist man nie vor einem Spuckeschwall sicher. Aber auf dem Rad sind alle gleich in China, die Ausländer auch. Zumindest fast.
Spott über Ausländer
"Da bidze" ist immer ein Ausruf, mit dem meine chinesischen Mitbürger von Faszination bis Abscheu ganz unterschiedliche Gemütslagen ausdrücken. "Wo dabidze", sage ich. "Ich bin eine Langnase", und tippe zugleich auf die prominente Mitte meines Gesichts. Verschämt kichern die Chinesen dann, weil ich ihre Beschreibung selbst verwende. Immer mehr Frauen gehen aber schon zum Schönheits-Chirurgen, um sich die Augenpartie westlich verändern zu lassen. Runde Augen, wie die über einer Langnase, das ist ihr Wunsch. Verkehrte Welt.
Mao, den sie alle bis heute noch verehren, hat den Chinesen auch für den Umgang mit Menschen aus anderen Ländern einen Leitspruch mitgegeben, auslegungsfähig wie jeder Merksatz: "Die meisten Ausländer sind gut, nur ein paar sind schlecht." Im Alltag folgen die Chinesen aber eher einer anderen Auffassung: "Einen Ausländer sollte man immer übers Ohr hauen". Merkantilismus, Überlegenheitsgefühl und Residualgefühle einer inneren Ablehnung wirken da.
Dem Volk dienen
Die Propaganda der chinesischen Medien bringt uns jetzt rührende Geschichten von den jungen Männern der Vierten Führungsgeneration nahe, von den Sechzigjährigen: "Serve the people" - Maos Spruch haben sie wieder hervorgekramt, den alle Chinesen passioniert vorbeten können, dessen Bedeutung aber leer ist - "Dem Volke dienen". Wer tut das schon? Na mindestens die gute Kneipe in San Li Tun, die aus dem mahnenden Wort ihren Namen bezog: "Serve the people". Ja-ja, der Parteichef und der Premier, Herr Hu und Herr Wen, sind sehr volksnah. Zu Feiertagen gibt es Bilder von ihnen, da besuchen sie die Armen und Arbeitenden.
Die Führer vor ihnen haben dagegen den Kapitalisten Zutritt zur Kommunistischen Partei verschafft. Eher verschwiegen wird, wie die Führung überall den Fortschritt fördert. Jiang Zemin hat seinen Sohn in der Akademie der Wissenschaften untergebracht, als Vize-Präsidenten, und siehe da, er war, so höre ich erfreut, mitverantwortlich für den bemannten Weltraumflug der Shenzhou V.
Einzug des Kapitalismus
Die neuen Helden aber heißen jetzt Yan Liwei und Hu Haiqing. Yan ist Chinas Weltraum-Navigator, der erste Taikonaut. Am 15.Oktober hat er sich auf den 21 Stunden und 23 Minuten langen Weg durchs All gemacht, mit dem lässigen Abschied:"Bis Morgen, dann". Er verlegte damit die Grenzen des Reiches der Mitte ins Unendliche.
Und Hu Haiqing? Sie heiratete auf Hawai. Der Millionär Daniel Mao war der Glückliche. Er besitzt so etwa 150 Millionen US-Dollar, war Vorstands-Chef des Medien-Unternehmens Sina. Hu Haiqing ist die Tochter des Generalsekretärs der Partei. Ein deutliches Zeichen der Veränderung in China: Die Tochter des obersten Kommunisten gründet eine Familie mit einem erfolgreichen Kapitalisten. Die Hochzeit ließ die Sina-Aktien hochschnellen, hieß es. Von der Partei gab es keinen Kommentar.
Ein rasanter Wandel hat China erfaßt, und lässt doch vieles beim alten. Ohne internationale Zusammenarbeit kann die Erneuerung des riesigen Reiches nicht gelingen. Die traditionalistische Gesellschaft braucht Know-How, Technologie und Finanzen aus der hochindustrialisierten Welt. Und die braucht die junge, frische Energie Chinas und einen neuen Markt. Beide haben die alten Verhaltensmuster aber noch nicht abgelegt, gehen vielfach ratlos miteinander um. Die Große Mauer besteht immer noch. In den Köpfen, auf beiden Seiten.