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Literatur von der Ruhr

7. April 2010

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand im Ruhrgebiet das größte industrielle Ballungszentrum Europas. Das faszinierte Schriftsteller, die Industrie und Arbeitswelt als literarischen Stoff entdeckten.

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1952, Ruhrgebiet, Zeche EMIL, Essen, Mine, Förderturm, Wolken, Himmel
Bild: picture-alliance/dpa

Der Bergmann und Schriftsteller Paul Zech war einer der ersten, der die schweißtreibende Arbeit unter Tage in eine ausdrucksstarke Sprache moderner Lyrik kleidete:

Die breite Brust schweratmend hingestemmt,

so führt er Schlag auf Schlag die Eisenpflöcke

in das Gestein, bis aus dem Sprung der Blöcke

Staub sprudelt und den Kriechgang überschwemmt.

Das Sonett "Der Hauer" erschien 1913 in der ersten Anthologie expressionistischer Gedichte. Damit war Zech zum Dichter geadelt, denn die Arbeiterliteratur war damals noch kaum entwickelt und das Ruhrgebiet noch nicht als Literaturlandschaft entdeckt. Das setzte erst später ein, wie der Direktor der Duisburger Stadtbibliothek Jan-Pieter Barbian erläutert: "In den 20er Jahren zur Zeit der Ruhrbesetzung blickten alle gesellschaftspolitisch interessierten Kreise auf diese Region."

Die Entdeckung der Industrie für die Literatur

Jan-Pieter Barbian hat einen Sammelband mit wissenschaftlichen Beiträgen über die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Literatur herausgegeben. Zu den wichtigsten Autoren zählt für ihn Erik Reger, der die Region damals durch Reportagen, Romane und Erzählungen bekannt gemacht habe. Auch andere Schriftsteller wie Joseph Roth oder Egon Erwin Kisch entdeckten damals Industrie und Arbeiter als literarischen Stoff. Trotzdem blieben Städte wie Essen, Bottrop und Gelsenkirchen nicht als Fixpunkte auf der literarischen Deutschlandkarte erhalten. Jan-Pieter Barbian erzählt, dass Heinrich Böll 1958 feststellte, das Ruhrgebiet sei noch nicht entdeckt worden.

Kumpel greif zur Feder

Buchcover Günter Wallraff: Ganz Unten
Reportagen aus der Arbeitswelt

Der Kölner Schriftsteller hat zu einem Bildband des Fotografen Chargesheimer einen Essay über den Alltag im Ruhrgebiet verfasst, das erst wieder in den 60er Jahren umfassend von Schriftstellern erschlossen wurde. Autoren wie Max von der Grün und Günter Wallraff gründeten die Gruppe 61. Sie kamen aus dem linken, sozialkritischen Spektrum der Bundesrepublik und wollten den Industriearbeiter und seinen harten Alltag nicht nur beschreiben, sondern auch als Leser erreichen. Später entstand der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, der die Kumpel auch selbst zum Schreiben bringen wollte. Doch das Programm "Kumpel greif zur Feder" hat nur in wenigen Fällen zu großer Literatur geführt. Anders war es, wenn Schriftsteller wie Max von der Grün die Arbeit unter Tage aus eigener Erfahrung kannten. Seine Romane zählen heute zu den bekanntesten Büchern über das alte Ruhrgebiet. Doch mit dem Ende des Industriezeitalters starb diese Art der Literatur. Jüngere Autoren konnten sich mit diesem literarischen Programm nicht identifizieren.

Erinnerungslandschaft

Buchcover Ralf Rothmann; Junges Licht
Langeweile am Rand der Kohlehalden.

Dennoch erschienen ab den 1990er Jahren intensive Schilderungen der Ruhrgebietswelt. Herausragend sind die Romane von Ralf Rothmann. Er schildert den Wandel der Region, in der er seine Kindheit und Jugend verbracht hat und trifft das Leben zwischen Zeche und Schrebergarten so präzise wie kaum ein anderer. Für Rothmann ist es eine Erinnerungslandschaft, wie ein kleiner Ausschnitt aus seinem Roman Wäldernacht zeigt:

Angesichts der grünen, von Klatschmohn umpunkteten Kornfelder zwischen den Halden, der Kanarienkäfige voll Getriller, der schiefen Taubenschläge und Erdbeerbeete überkam mich auch wieder eine Zuneigung zu diesem Kohlenpott und seinen Kumpels, deren Schnaufen hinter den Vorhängen offener Hoffenster leiser war als das blecherne Tick-Tack der Woolworth-Wecker. Die Sonne ging auf, der derselbe Glanz, der vor Unzeiten jene Wälder beschienen hatte, die jetzt als Koks in Kellern lagern.

Zechen als Kulissen

Buchcover Frank Goosen Radio Heimat
"Woanders is auch scheiße!"Bild: Eichborn

Der Koks spielt in der jüngsten Literatur keine tragende Rolle mehr. Der Bochumer Schriftsteller und Kabarettist Frank Goosen gehört zu der Generation, die die Arbeitswelt an der Ruhr nur noch aus den Erzählungen der Eltern und Großeltern kennt. Und so gibt es in seinen Romanen und Erzählungen keine Bergarbeiter mehr und die Industrielandschaft hat sich verändert: Viele Zechen sind abgerissen, andere stillgelegt, und die werden heute anders genutzt. In seinem neuem Erzählband "Radio Heimat – Geschichten von zuhause" klingt das so:

An lauen Sommerabenden stehe ich gern auf der Eisenbahnbrücke am Lohring in Bochum und schaue auf meine Stadt. Ich sehe das Mercedes-Hochhaus am Bahnhof, die Fiege-Brauerei, das neue Hochhaus der Stadtwerke (...), und ganz rechts erkenne ich sogar noch den Förderturm des Bergbau-Museums. Und dann denke ich: Boah! Schön ist das nicht!

Aber irgendwie findet er sie doch schön, diese von Bergbau und Stahlindustrie gezeichneten Städte. Denn wie viele Bewohner des Ruhrgebiets beziehen auch Frank Goosens Figuren ihr Selbstverständnis immer noch aus der Vergangenheit. Schließlich ist diese Gegend damals zu dem geworden, was sie heute noch ist: eine ganz besondere Region Europas.

Autorin: Christel Wester

Redaktion: Gabriela Schaaf

Literaturhinweise:

Jan-Pieter Barbian, Hanneliese Palm (Hg.): Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Literatur. Klartext-Verlag, 296 Seiten, 29.90 Euro, ISBN 978-3-8375-0123-0

Ralf Rothmann: Wäldernacht.Suhrkamp 1994

Ders.: Milch und Kohle. Roman. Suhrkamp 2000

Ders.: Junges Licht. Roman. Suhrkamp 2004

Frank Goosen: Radio Heimat. Geschichten von zuhause. Eichborn 2010