Das Schweigen gebrochen
9. Oktober 2017"Viva España! Viva!" "Spanien lebe hoch!", war einer der häufigsten Ausrufe an diesem Tag. Alle, die am Sonntag auf die Straße in Barcelona zogen, hatten die spanische Flagge entweder umgebunden, trugen sie am Handgelenk oder auf dem Kopf.
Christina ist Katalanin durch und durch, sie lebt und studiert in Barcelona. Ihre Familie stammt aus ganz Spanien: "Meine Mutter ist aus Estremadura und mein Vater aus Andalusien. Die Unabhängigkeitsbefürworter haben kein Recht, uns aus Spanien rauszuwerfen. Wer gehen will, soll gehen. Wir wollen aber sicher nicht gehen!"
Die 27-Jährige hat nicht nur die spanische Flagge, sondern auch die katalanische und die europäische über der Schulter. "Weil ich alles bin: Katalanin, Spanierin und Europäerin!" Und besonders Letzteres wolle sie auch bleiben, daran werde auch keine Unabhängigkeitserklärung etwas ändern. Ihr Freund Diga denkt ähnlich: "Wir wollen kein zersplittertes, kein gespaltenes Europa, wir wollen, dass Europa floriert. Und wir wollen Teil davon sein und bleiben."
Es ziehen aber auch andere Gruppen die Straßen entlang, sie provokantere Forderungen, wie "Puigdemont gehört ins Gefängnis!" Auch preisen einige von ihnen die Arbeit der spanischen National- und der Militärpolizei für ihr hartes Durchgreifen am 1. Oktober, dem Tag des Referendums, als mehrere Wähler durch das gewaltsame Vorgehen der Polizeikräfte verletzt wurden.
Gegner der Unabhängigkeit aus unterschiedlichen Lagern
Die Bewegung, die zu Hunderttausenden auf die Straße zieht, ist alles andere als homogen. Ein katalanischer Freund hatte das schon vor Wochen erklärt, als er darauf angesprochen wurde, warum die Gegner der Unabhängigkeit keine Gegendemonstrationen organisieren, um der mächtig erscheinenden Separatismusbewegung etwas entgegen zu setzen. "Ich will nicht in den gleichen Reihen demonstrieren wie die Nationalisten von der PP", sagte er. Und so ging und geht es nicht wenigen. Besonders nach dem gewaltsamen Eingreifen der Polizei Anfang Oktober wollen nur wenige Mariano Rajoys Regierungspartei Partido Popular unterstützen. Ihr katalanischer Ableger hat die Demonstration gegen die Unabhängigkeit am Sonntag unterstützt.
Trotzdem, der Aufruf an die Bevölkerung scheint dieses Mal breit gefächert genug gewesen zu sein - oder das Maß voll genug -, dass sich die unterschiedlichen Schattierungen, die es zwischen den reinen Pro- und Kontra-Bewegungen der Unabhängigkeit gibt, auch mobilisieren ließen. Am Ende marschierten sie alle gemeinsam auf der Straße, trugen die spanische Flagge, die katalanische - oder gleich beide. Viele hatten in Erinnerung an den "weißen Protest" vom Samstag weiße Luftballons dabei, um damit ihre Unterstützung für einen Dialog zwischen der spanischen und der katalanischen Regierung zu bekräftigen. Sie alle eint das Ziel, dass sie der Welt zeigen wollen, dass es Gegner der katalanischen Unabhängigkeit gibt.
Die Veranstalter sprechen am Nachmittag von mehr als einer Million Teilnehmer, die städtische Polizei beziffert die Zahl auf 350.000.
Zwei Flaggen - zwei Fronten
Ivan Bercedo ist an diesem Sonntag zu Hause geblieben und nicht auf die Straße gegangen, obwohl er gegen die Unabhängigkeit Kataloniens ist. "Ich habe noch mehr Angst vor einer Demo, auf der spanische Flaggen geschwungen werden, als vor einer Demonstration mit katalanischen Flaggen”, sagt der Architekt.
Die spanischen Flaggen seien traditionell mit dem Francoismus vorbelastet, deshalb bereite es ihm und vielen anderen Spaniern ein ungutes Gefühl, damit durch die Straßen zu laufen. "Es ist keine gute Idee die Straßen voll zu haben mit zwei Seiten, zwei Fronten, die unterschiedliche Flaggen tragen. Die sich so konfrontieren, als würde nicht mehr viel fehlen bis zum Zusammenstoß”, sagt Ivan.
Er schaut besorgt und hat auch ein bisschen Angst vor der Zukunft: Was passiert wohl, wenn der katalanische Präsident Puigdemont am Dienstag tatsächlich die Unabhängigkeit erklärt? Wie wird die spanische Regierung in Madrid reagieren? Wird sie Artikel 155 der spanischen Verfassung anwenden und damit Katalonien die Autonomie entziehen, Puigdemont und andere Mitglieder der Regionalregierung womöglich verhaften?
Dann, so sagen Politik-Experten, könnte die Situation eskalieren. Denn die Anhänger der Unabhängigkeit werden nicht einfach nach Hause gehen und den verlorenen Kampf akzeptieren. Es drohe eine Radikalisierung und die bislang friedliche Bewegung könnte in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei geraten.