Das syrische Desaster
15. März 2015"Das Volk will den Sturz des Regimes" - Sprüche wie dieser prangten Mitte März 2011 auf Mauern und Hauswänden in der südsyrischen Stadt Daraa, hingesprüht von einigen Schülern. Diese wurden festgenommen, was Bewohner der Stadt veranlasste, gegen die Verhaftung auf die Straße zu gehen. Sicherheitskräfte der Assad-Regierung eröffneten daraufhin das Feuer auf die Demonstranten. Das veranlasste in den folgenden Tagen und Wochen noch mehr Syrer, friedlich gegen das harsche Vorgehen des Regimes aufzubegehren.
Doch auch diese Demonstrationen bekämpfte das Regime auf das Entschlossenste - und setzte so eine Gewaltspirale in Gang, der bis heute fast eine Viertelmillion Syrer zum Opfer gefallen sind. Andere versuchen sich vor der ausufernden Gewalt in Sicherheit zu bringen. Rund vier Millionen Syrer haben das Land verlassen, rund sechseinhalb Millionen irren innerhalb seiner Grenzen umher.
Doch längst fliehen die Syrer nicht mehr allein vor der Gewalt des Regimes. Ebenso versuchen sie sich vor den Gräueltaten dschihadistischer Gruppen wie etwa der Al-Nusra-Front, vor allem aber des "Islamischen Staats" (IS) in Sicherheit zu bringen. Der geht in den von ihm eroberten Gebieten gnadenlos gegen alle vor, die er zu "Ungläubigen" erklärt hat.
"Standardrepertoire von Diktatoren"
Dass die Dschihadisten sich in Syrien sowie im benachbarten Irak so sehr ausbreiten konnten, gehe unmittelbar auf Assad selbst zurück, sagt der am britischen Think Tank Chattham House forschende Politologe Nadim Shehadi im DW-Interview. Für Assad habe es kein besseres Mittel gegeben, um sein Regime aus der Schusslinie zu nehmen. "Ein solches Vorgehen gehört zum Standardrepertoire von Diktatoren. Man öffnet die Gefängnisse, entlässt die Schurken und Kriminellen. Man stiftet Chaos, gibt dann vor, dieses Chaos zu bekämpfen - und erhält auf dieses Weise seine Legitimität zurück."
Tatsächlich hat sich der Blick der internationalen Staatengemeinschaft auf Syrien massiv verändert. Standen im ersten Jahr des Krieges noch die Gräueltaten des Assad-Regimes im Vordergrund, rückten in den folgenden Monaten der Siegeszug und die Grausamkeit des IS ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Enthauptungen, der Feuertod eines jordanischen Piloten, Menschen, die aus den obersten Stockwerken hoher Häuser in die Tiefe gestürzt werden: Mit seiner enthemmten Gewalt entsetzte der IS Muslime und Nicht-Muslime gleichermaßen. Und spätestens als die Terrororganisation im Sommer 2014 ihr Kalifat ausrief, war klar, dass ihr Machtanspruch keine Grenzen kennt. Durch Attentate in anderen Ländern der Region wie auch in Europa, Kanada und Australien ließen die Dschihadisten keinen Zweifel daran, dass sie über ein weltweites Netz von Sympathisanten und potenziellen Mitstreitern verfügen, bereit, jederzeit und überall zuzuschlagen.
Militärisches Vorgehen gegen den IS nötig, aber unzureichend
Damit hat der IS die Internationale Staatengemeinschaft unter Zugzwang gesetzt. Eine internationale Koalition unter Führung der USA hat den Kampf gegen die Dschihadisten aufgenommen. Eine andere Lösung gebe es derzeit auch nicht, erklärt der Politologe Barah Mikaïl vom Forschungsinstitut FRIDE in Barcelona. Allein militärisch sei das Problem langfristig aber nicht zu lösen. "Allerdings kommen wir derzeit auch politisch nicht voran. Denn derzeit sieht es nicht so aus, als ließe sich mit dem IS verhandeln."
Der IS stelle die Staatengemeinschaft darum vor sehr langfristige Herausforderungen, so Mikaïl im Interview mit der DW. Es gelte Verhältnisse zu schaffen, die den Rekrutierungsprozess des IS dauerhaft unterbinden. Das werde zwar im Hinblick auf die derzeit aktiven IS-Kämpfer nicht viel nutzen, da diese entschlossen seien, notfalls auch den eigenen Tod in Kauf zu nehmen. Aber Sympathisanten und potenzielle Mitstreiter könne man sehr wohl davon abhalten, sich dem IS anzuschließen. "Das kann aber nur gelingen, indem man sie im Westen besser integriert und indem man im Nahen Osten zentrale Missstände wie Korruption oder Arbeitslosigkeit behebt. Gelingt das nicht, werden sich immer mehr Menschen vom Islamischen Staat angezogen fühlen."
Unter dem Eindruck der Gräueltaten ist Assad für die westliche Staatengemeinschaft nicht mehr Feind Nummer eins. Anders als die Dschihadisten gelten er und sein Regime zwar als illegitim, aber als vergleichsweise berechenbar - und als Garanten regionaler, wenn nicht sogar internationaler Stabilität. "Die Regierung Obama hat bereits klar gemacht, dass sie will, dass Baschar al-Assad an der Macht bleibt", erklärt Nadim Shehadi. "Sie will keine neue Regierung in Syrien."
Zeit spielt für Assad
Das Assad-Regime selbst geht derweil weiter gegen seine Gegner vor. Darunter zu leiden haben vor allem jene Menschen, die in den vom IS beherrschten Gebieten wohnen. Beim Kampf gegen die Dschihadisten nimmt Assads Militärapparat keine Rücksicht auf Zivilisten. Auf Stadtviertel, in denen der IS herrscht, lassen syrische Hubschrauber Fassbomben fallen. Die gelten zwar nicht der Bevölkerung, sondern den IS-Kämpfern. Doch den Tod zahlloser Zivilisten nimmt das Regime billigend in Kauf.
Gegen dieses Vorgehen ist die internationale Staatengemeinschaft weiter hilflos. Die Zeitung Al-Sharq al-Awsat hat kürzlich ein bitteres Résumé der bislang erfolglosen Friedensbemühungen des UN-Syrien-Gesandten Staffan de Mistura gezogen. Die Syrer hätten von ihm bislang nichts anderes gesehen als einige Fotos, die ihn lächelnd neben Baschar al-Assad zeigten. "Seine Mission ist ein Tropfen auf den heißen Stein", schreibt die Zeitung. "Er hat vier Monate gebraucht, um einen Waffenstillstand in einem Stadtviertel in Aleppo durchzusetzen. Und das in einem Land, das brennt und jeden Tag aufs Neue zerstört wird."