Das unterschätzte Parlament
2. Mai 2014Die Wahlbeteiligung geht laut Umfragen weiter in den Keller, die Bürger, die noch wählen gehen, setzen ihr Kreuz zunehmend bei europafeindlichen Parteien. Dabei hat das Parlament seit dem Inkrafttreten des Lissabonvertrags 2009 so viel Einfluss auf die europäische Politik wie noch nie. Bundeskanzlerin Merkel und die anderen EU-Regierungschefs können das Parlament samt Präsident Martin Schulz (Artikelbild) nicht mehr einfach übergehen, so wie es früher war.
Historisch gesehen lief der Machtausbau des Europäischen Parlaments im Schnelldurchlauf ab. Im Mai wählen die europäischen Bürger ein politisches Organ, das die Politik der EU maßgeblich mitentscheidet und lenkt und bei weitem mehr Einfluss besitzt, als die Medien suggerieren und viele Bürger denken. Das Parlament ist neben dem Ministerrat gleichberechtigter und gleichwertiger Mitendscheider über einen Großteil der europäischen Gesetzgebung.
Aus dem Hintergrund ins Rampenlicht
Dabei hat alles so klein angefangen. Der erste Vorläufer des Europäischen Parlaments, die Gemeinsame Versammlung, war ein rein beratendes Gremium der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). 1952 gegründet, bestand die Versammlung aus 78 Abgeordneten - kein Vergleich zu den 751 Mandaten bei den kommenden Wahlen. Fünf Jahre später erweiterten sich zwar die Zuständigkeiten der Abgeordneten auf die Europäische Wirtschaftgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom), Entscheidungen treffen konnte die parlamentarische Versammlung jedoch immer noch nicht. Nicht überraschend, dass unter der Bevölkerung größtenteils Desinteresse an der "besseren Diskussionsrunde“ herrschte.
1979 rückte das inzwischen umbenannte Europäische Parlament das erste Mal richtig in den Fokus der Bürger der damals noch neun Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft: Sie konnten erstmals die Abgeordneten direkt wählen. Mit 63 Prozent Wahlbeteiligung war diese erste Wahl auch gleichzeitig diejenige mit der bis heute höchsten Wahlbeteiligung. Ab diesem Zeitpunkt gewann das Parlament schrittweise an Einfluss, und das "innerhalb einer Politikergeneration", betont Klaus Hänsch, von 1994 bis 1997 Präsident des Europäischen Parlaments, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Eine Leistung, wofür nationale Parlamente in der Geschichte fast das Fünffache an Zeit brauchten.
Viel erreicht…
Gesetze erlassen, den EU-Haushalt verabschieden, die Arbeit der Kommission kontrollieren - die Aufgaben des Europäischen Parlaments sind zahlreich. Zwar teilt sich das Parlament diese Aufgaben mit dem Ministerrat und kann nicht allein entscheiden, aber ohne die Zustimmung der Abgeordneten geht es nicht mehr. "Das Parlament ist ein entscheidender konstitutiver Teil des institutionellen Dreiecks der Europäischen Union“, erklärt Klaus Hänsch. Ohne das Einverständnis des Parlaments können weder EU-Verträge geändert noch Beitrittsverträge oder der EU-Finanzrahmen beschlossen werden. Die Kommission verfügt dagegen über das Vorschlagsrecht und gilt als die Hüterin der Verträge, der Ministerrat hat Gesetzgebungskompetenzen und entscheidet die zwischenstattlichen Teile der europäischen Politik.
…aber noch nicht am Ziel
Und doch gibt es noch diverse Baustellen, denn der neu gewonnene Einfluss spiegelt sich laut Umfragen nicht im Vertrauen der Bürger. In Deutschland gaben mehr Befragte an, dem Europäischen Parlament eher nicht zu trauen (44%) als ihm zu vertrauen (41%). Für viele Bürger scheint das Europäische Parlament weit weg zu sein, Kompetenzen hin oder her. Mit Brüssel und Straßburg verbindet man keine Gesichter, sondern nur Regulierungen und Bürokratie.
Auch Klaus Hänsch ist der Meinung, dass die Personen hinter dem Parlament immer noch nicht ausreichend wahrgenommen werden. Die Medien würden sich meist nur auf die Vertreter aus dem eigenen Land konzentrieren, Vorsitzende aus anderen Ländern blieben meist unbekannte Gesichter, auch wenn sie wichtige Positionen bekleiden.
Gleichzeitig bietet das Europäische Parlament im Vergleich zu den meisten nationalen Parlamenten recht wenig Anlass zur Berichterstattung, denn das Parlament ist nicht in Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit unterteilt, sondern sieht sich im Gesamten als die Opposition zur Kommission. "Wir haben es im Europäischen Parlament aufgrund der Wahlergebnisse und aufgrund der Notwendigkeit, bei Entscheidungen die absolute Mehrheit der Abgeordneten zusammen zu bekommen, seit vielen Jahren mit einer großen Koalition zu tun“, erklärt Klaus Hänsch. "Und das schränkt natürlich auch die Wahrnehmung von Auseinandersetzungen im Europäischen Parlament ein.“ Wichtig sei es, die Berichterstattung über das Europäische Parlament noch weiter zu verstärken. Die Beteiligung an wichtigen Entscheidungen für den Weg aus der Krise und die gewollt stärkere Personalisierung, wie das Aufstellen von Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten, würden bereits ihren Teil dazu beitragen.
Der Europäischen Union und dem Parlament stehen keine einfachen Zeiten bevor. Die Folgen der Krise sind noch deutlich zu spüren, die Unzufriedenheit der Bürger ist groß und je nachdem, wie viele Stimmen die rechten, europafeindlichen Parteien bekommen werden, gibt es erheblichen Gegenwind aus den eigenen Reihen. Und doch ist es eine Chance, den Bürgern zu beweisen, wofür das Parlament und die Union gut sind. Letzten Endes liege es am Europäischen Parlament selbst, durch seine Aktionen seine Arbeit und sich selbst dem Bürger näher zu bringen, betont Klaus Hänsch. Die nötigen politischen Mittel hat es dazu inzwischen ja schon.