Das "Weiße Album" der Beatles wird 50
22. November 2018Es lag unterm Weihnachtsbaum. In reinem Weiß, die Buchstaben "The BEATLES" daraufgeprägt, unten rechts kaum sichtbar die Nummer 320733. Aufgeklappt, links die Titel, rechts vier schlichte Schwarzweiß-Porträts von John, Paul, George und Ringo. Innen drin ein großes Poster mit den Vieren und den Angaben zu den Titeln. Ein fulminanter Start mit "Back In The U.S.S.R." - und dann folgten Musikstücke, die in ihrer Vielfalt, in den Harmonien und Arrangements für meine jugendlichen Ohren eine Offenbarung waren und ihre Faszination bis heute nicht verloren haben. Und bis heute breche ich mir die Finger, wenn ich auf der Gitarre "Blackbird" spiele.
Schatzkiste
Die dreißig Musikstücke sind zum größten Teil nicht länger als drei Minuten - der kürzeste Track ist 52 Sekunden lang, der längste über acht Minuten. Der größte Hit ist "Ob-La-Di-Ob-La-Da" und gehört nicht zu meinen Lieblingssongs - denn ich erinnere mich noch, dass es in Deutschland Ende der 60er totgespielt wurde, weil es hierzulande ein Riesenhit war.
Auf der Platte gibt es weitaus interessantere Nummern: "Happiness Is A Warm Gun" kommt wie eine komprimierte Rockoper daher, zarte Lieder wie "Julia", "I Will", "Mother Nature's Son" oder "Blackbird" wechseln sich mit kraftvollen, opulent instrumentierten Songs ab. Zwischendrin Soundcollagen (das endlose "Revolution 9" habe ich nie bis zum Ende gehört), der erdige "Yer Blues" - und in "Rocky Raccoon" einer der ersten Raps der Popmusikgeschichte. Musikstile wechseln zwischen Folk, Rock, Country, Blues, Progressive Rock und Psychedelic. Und "Helter Skelter" ist eine der ersten Hardrocknummern überhaupt. Das "Weiße Album" ist eine Schatzkiste, ein Meilenstein, es hat die heutige Pop- und Rockmusik vorweggenommen - ich sage sogar: Ohne dieses Album würde die Musik heute nicht so sein, wie sie ist.
Zeitenwende
Um genau zu verstehen, was dieses Doppelalbum mit dem Ende des "Summer of Love" zu tun hatte, war ich damals zu jung. Heute weiß ich: Die Beatles haben sich mit dieser Platte von der bunten, drogengetränkten, psychedelischen Flower-Power-Zeit verabschiedet.Bis auf wenige Ausnahmen klingt die Musik nicht mehr drogenvernebelt, so wie frühere Songs ("Lucy In The Sky With Diamonds" oder "Strawberry Fields"). Nach dem Vorgänger-Album "Sergeant Pepper's Lonely Hearts' Club Band", dem Soundtrack des "Summer of Love", scheinen sich die Musiker von ihrer verrückten Zeit zu befreien: Sie machen wieder Musik. Jeder für sich und doch zusammen.
Die Beatles an ihren Grenzen
Dass das Album überhaupt entstanden ist, grenzt fast an ein Wunder. Anfang 1968 sind alle vier Beatles noch mit ihren Frauen zusammen im indischen Meditationslager des Gurus Maharishi Mahesh Yogi und schwören sich, für immer zusammenzubleiben. Ringo ist der erste, der keine Lust mehr auf transzendentale Meditation und vegetarisches Essen hat und abreist, Paul folgt ihm kurze Zeit später, während John und George mehrere Wochen in Indien verbringen und einen Haufen Songs zusammenschreiben.
Zurück in London, bringen sie im August 1968 ihre erfolgreichste Single "Hey Jude" raus, gründen ihre Plattenfirma "Apple Records" und sind von nun an Plattenbosse - allerdings mit wenig Geschäftssinn; zunächst ist das Label ein Millionengrab. Zudem hat John inzwischen ständig Yoko Ono im Schlepptau, was den anderen dreien gehörig auf die Nerven geht - sie können die Frau nicht ausstehen. Die Aufnahmesessions zum Weißen Album sind anstrengend, oft lassen sich die Musiker nur treiben und entwickeln so manchen Song erst im Studio.
Alle spielen mehrere Instrumente ein. Jeder sitzt mal am Klavier oder am Schlagzeug, Paul ist der Vielseitigste: Neben seinem Bass spielt er Gitarren, Tasteninstrumente, Flügelhorn, Blockflöte, Schlagzeug und Pauke. Es gibt einige Gastmusiker, Bläser, Streicher und Sänger, darunter auch Yoko Ono. Produzent George Martin ist am Harmonium zu hören und der damalige Gitarrist von "Cream" - ein gewisser Eric Clapton, den eine lange Freundschaft mit George verbindet - spielt das Gitarrensolo bei "While My Guitar Gently Weeps".
Mitten in den Aufnahmen verliert Ringo die Nerven und steigt kurzzeitig aus. Als er wieder zurückkommt, ist sein Schlagzeug mit Blumen geschmückt: "Willkommen zu Hause".
Schließlich haben die Beatles es geschafft, nicht zuletzt mit Hilfe ihres Produzenten George Martin, der später vom "schwierigsten Album meiner Karriere" sprechen wird.
Jede Platte ein Unikat
Der Stress ist dem Album kaum anzumerken. Was allerdings auffällt, ist, dass jeder öfter mal sein eigenes Süppchen kocht, in den meisten Fällen aber von den anderen drei Beatles begleitet wird.
Als das Album im Kasten ist, machen die Beatles eine Pause von sich selbst, lassen das Datum der Veröffentlichung (22. November 1968) an sich vorbeiziehen und treffen sich erst im Januar 1969 wieder, um zu sehen, wie es weitergeht. Der Friede währt nicht lang. In der kurzen Zeit der Harmonie gelingt es den Fab Four aber, sich mit "Abbey Road" ein weiteres Denkmal zu setzen. 1970 erscheint "Let It Be" als Abschiedsalbum. Am 10. April 1970 ist die Beatles-Geschichte zu Ende.
Die Musik aber bleibt. Ich kenne das Weiße Album nun schon gute 40 Jahre lang. Alle Jubeljahre lege ich es mal auf - und jedesmal bin ich aufs Neue fasziniert von den Songs. Mein Album ist ein Unikat, wie alle Weißen Alben: Es hat eine laufende Nummer. Meine ist schon sechsstellig, die Platte wurde 1976 gekauft.
Die ersten Nummern jedoch werden zu hohen Preisen gehandelt. 2005 etwa wurde die LP mit der Nummer 0000008 für 13.200 Euro versteigert. Und zwar nur die Hülle - allerdings mit den Unterschriften der Beatles. Den Rekord erzielte aber 2015 die Nummer 0000001 - das Exemplar aus dem Besitz von Ringo Starr wurde für umgerechnet etwa 700.000 Euro verkauft.
Neuauflage zum 50-sten
Nun sind verschiedene Jubiläums-Editionen erschienen, die das Herz eines jedes Beatles-Nerds höher schlagen lassen. Wahlweise drei oder sieben CDs beziehungsweise zwei oder vier Vinyls. George Martins Sohn Giles und Tontechniker Sam Okell arbeiteten fast ein Jahr lang mit einem Expertenteam von Ingenieuren und Audiorestauratoren in den Londoner Abbey Road Studios zusammen, um die Stereo- und 5.1. Surround-Mixe für das Album zu erstellen. Zu hören ist Martins Stereo-Album-Mix, der direkt von den originalen Vierspur- und Achtspur-Session-Bändern stammt. Dabei ließ er sich vom ursprünglichen Stereo-Mix seines Vaters inspirieren.
In der letzten Maiwoche im Jahr 1968 hatten sich die Beatles in Georges Haus in Esher versammelt, um Demos aufzunehmen. Die sogenannten "Esher-Demos" kursierten bislang nur als Bootlegs und sind nun mit in der Box, ebenso wie weitere Aufnahmen von Studiosessions, die noch nie zu hören waren. In der Deluxe-Ausgabe gibt es neben einer Audio-Blue Ray noch ein 168 Seiten dickes Hardcoverbuch mit Fotos, Dokumenten und Texten. Das macht Appetit auf neues Altes von den Beatles - zumal mein 40 Jahre altes Weißes Album doch schon recht "knusprig" klingt.