"Dayton war notwendig"
21. November 2015Am 21.11.1995 wurde auf dem US-Militärstützpunkt Dayton (Ohio) nach dreiwöchigem Ringen das Abkommen paraphiert, mit dem der sogenannte Jugoslawienkrieg beendet wurde. Die formelle Unterzeichnung fand am 14. Dezember in Paris statt.
Deutsche Welle: Herr Steiner, 20 Jahre nach der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens ist die Lage in Bosnien nach wie vor sehr schlecht. In Dayton wurde die Aufteilung in die Republika Srpska auf der einen und die bosniakisch-kroatischen Föderation auf der anderen Seite beschlossen. Das hat sich für den Aufbau eines funktionierenden Staates als Haupthindernis erwiesen. Hätte man das damals 1995 in Ohio nicht voraussehen können?
Michael Steiner: Sie müssen an die Lage damals denken. Damals war das Hauptziel aller Beteiligten - der Internationalen Gemeinschaft aber auch der Menschen in Sarajevo - Frieden. Darum ging es: dass das Völkermorden aufhört. Und das in einer Lage, in der es gleichzeitig ein gewisses Zögern der Internationalen Gemeinschaft gab, sich gegen den Willen der Parteien oder auch nur einer Partei in Bosnien zu engagieren. Die Internationale Gemeinschaft war zu diesem Zeitpunkt nicht bereit, vor Ort mit "boots on the ground", also mit den Bodenkampftruppen, gegen den Willen der Parteien zu intervenieren.
Sie haben aktiv das Abkommen von Dayton mit verhandelt. Der Krieg wurde damit beendet, aber gab es damals keine Alternative zur Zwei-Entitäten-Lösung von Bosnien und Herzegowina?
Keine wirkliche, denn wir hatten ja ein Grundproblem. Das eine Problem war ein Widerspruch zwischen dem, was die Konfliktparteien wollten und in Teilen ja auch noch heute wollen. Die Bosniaken wollten den Gesamtstaat erhalten, das wollte auch die Internationale Gemeinschaft. Die Kroaten wollten eine Zwischenlösung, eine weitgehende Autonomie. Und die Serben wollten ganz raus, wollten eben die Abspaltung eines möglichst großen Teils des Kuchens. Diesen Widerspruch mussten wir damals überwinden, in einer Lage, wo wir auf die Zustimmung der Parteien angewiesen waren. Und diesen Widerspruch konnte man eben nur so weit lösen, wie es dann auch gelungen ist in den Abkommen von Dayton. Mir hat das auch nicht gefallen, diese furchtbaren Komplikationen, die wir da einbauen mussten, allerdings hatten wir schon die Vorstellung damals: das ist jetzt der erste Schritt, um überhaupt zum Frieden zu gelangen. Und von da aus waren mir Reformen, die das Land effektiver verwalten ließen, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber die sind nicht gekommen.
Aber die Aufteilung in Republika Srpska auf der einen und der bosniakisch-kroatischen Föderation auf der anderen Seite hat die ethnische Spaltung des Landes zementiert.
Wir mussten damals ja in der realen Welt handeln. Was wäre denn die Alternative gewesen? Die Alternative wäre gewesen, dass dieser Konflikt nicht zu Ende gegangen wäre, denn die Internationale Gemeinschaft war nicht bereit, ohne die Zustimmung der Parteien, die diese diametral divergierenden Auffassungen hatten, nach Bosnien zu gehen. Die 60.000 Soldaten, die ja dann gekommen sind Anfang 1996, die sind nur gekommen unter Voraussetzung der Zustimmung aller Parteien. Selbstverständlich, wenn wir hätten sagen können: entweder ihr stimmt einer Verfassung zu, die uns gefällt, oder wie kommen und zwingen euch dazu - dann wären wir in einer anderen Lage gewesen. Diese Option hatten wir aber nicht.
Ich glaube aber, das ist auch nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist, dass wir von internationaler Seite, vielleicht auch von bosnischer Seite, die Vorstellung hatten: Wenn der Frieden erst mal kommt, das heißt, wenn die Waffen schweigen und dann Demokratie kommt, dann werden sich die Dinge schon von selbst in die richtige Richtung entwickeln. Das war natürlich ein Fehler. Ich war immer überzeugt, dass man statt dieser sehr leichten zivilen Präsenz, die wir dort hatten, gleich von Anfang an - wir haben damals von Protektorats-Lösung gesprochen - erst mal für ein, zwei Jahre eine Übergangsverwaltung hätten schaffen sollen mit sehr großen Vollmachten von der internationaler Seite. Erst dann hätten wir den nächsten Schritt machen sollen, nämlich durch die Organisation von Wahlen die Selbstverwaltung des Landes wieder herzustellen.
Es war eine falsche Vorstellung, dass man erst Demokratie schafft und dann Ordnung und Recht und Sicherheit - es muss umgekehrt laufen. Du brauchst erst ein geordnetes Wesen, du brauchst erst das Gefühl der Sicherheit für die Menschen und erst dann kannst du wählen - nicht umgekehrt.
Das war aber Carl Bildt (der erste Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Red.) und mir sehr klar, als wir mit Händen und Füßen dagegen gekämpft haben, dass die Wahlen zu früh organisiert werden. Aber das war eine internationale Vorgabe, die sich sicherlich als falsch erwiesen hat. Wenn wir das Engagement, das wir in den letzten 20 Jahren kumulativ dann doch gezeigt haben, auch die Kosten, gleich von Anfang an massiv eingesetzt hätten, wären wir heute sicherlich einen Schritt weiter.
Wenn Sie die Macht hätten, in Bosnien etwas zu verändern - was würden Sie jetzt konkret tun?
Ich glaube sicherlich, dass es im Interesse aller Menschen in Bosnien - und zwar der Serben, der Kroaten und der Bosniaken - liegt, dass das Land eine funktionierende Verfassung erhält. Das Daytoner Abkommen war Mittel zum Zweck, Frieden zu erreichen, weil nichts anderes möglich war. Aber es ist natürlich ein Anachronismus. Und außerdem gibt es eine Rechtsverpflichtung, weil der Europäische Menschenrechtsgerichtshof 2009 auch Veränderungen eingefordert hat. Also es ist eine rechtliche Verpflichtung, aber auch eine politische Verpflichtung im Interesse der Menschen, die Verfassung anzupassen an das, was notwendig ist, damit ein Staat wirklich funktionieren kann. Dazu kommt natürlich auch, dass die unsägliche ideologische Propaganda, die es damals gab, die es in den letzten 20 Jahren gab und die es auch heute noch gibt, konterkariert wird durch eine objektive Berichterstattung.
Wer hat Ihrer Meinung nach dann versagt in Bosnien? Die Internationale Gemeinschaft, weil sie sich nicht richtig gekümmert hat, oder die Bosnier, weil sie sich, wie man in Brüssel ständig sagte, nicht einigen konnten?
Jeder trägt hier seine Mitverantwortung. Ich glaube, dass die Internationale Gemeinschaft auch heute weiß, dass es ein Fehler war nur auf das Ende des Krieges zu starren und dann sozusagen die Nachbehandlung etwas zu sehr auf die leichte Schulter zu nehmen. Aber es gibt auch eine Selbstverantwortung der Menschen in Bosnien und zwar auf allen Seiten. Es gab diese Dominanz des national geprägten Denkens, die stärker war als das Verantwortungsgefühl für ein funktionierendes Gemeinwesen. Da gibt es auch eine Schuld auf Seiten der Bosnier. Ich glaube, wir hätten alle zusammen weiter kommen können, als wir heute sind. Aber eins darf man auch nicht vergessen: In Dayton ist der Frieden gesichert worden und in Dayton hat man etwas erreicht, an dem viele Zweifel hatten: Dass dieser Horror der Jahre zuvor beendet wurde. Und das ist auch ein hohes Gut. Natürlich muss man mehr erreichen, aber das darf man auch nicht unterschätzen. Denn die Jahre zuvor waren für die Menschen ein Alptraum, und deswegen war das damals vordringlich. Insofern hat es funktioniert: der Krieg war zu Ende.
Der deutsche Diplomat Michael Steiner koordinierte zu Bürgerkriegszeiten in Ex-Jugoslawien das deutsche Engagement um die Friedensbemühungen in der Region. In dieser Funktion war er auch an den Verhandlungen für das Friedensabkommen von Dayton beteiligt. 1996 und 1997 war er Stellvertretender Hoher Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina.
Das Interview führte Jasmina Rose.