Degenkolb: "Regenbogentrikot ist mein Traum"
7. Januar 2016DW: Zurück aus Urlaub und Saisonpause – sind Sie schon bereit für eine neue Saison?
John Degenkolb: Ja, ich hatte einen tollen Urlaub und habe vier Wochen das Fahrrad nicht angerührt. Seit meinem Trainingslager im Dezember auf Mallorca bin ich wieder auf einem anständigen Level. Jetzt können die letzten Vorbereitungen anlaufen. Wir fliegen jetzt mit dem Team in ein weiteres Trainingslager ins spanische Calpe. Dort werden noch einmal Grundlagen gelegt, aber auch schon Intensitäten trainiert. Damit der Körper merkt: Es geht los, es sind nur noch vier Wochen bis zum ersten Saisonrennen.
Das klingt ja alles nach "business as usual". Dabei muss doch alles anders sein nach Ihren beiden monumentalen Siegen bei Mailand-Sanremo und Paris-Roubaix im letzten Jahr.
Ich glaube, ich darf mich davon nicht zu sehr verrückt machen lassen. Es war ein wahnsinniges Jahr, in dem so viel passiert ist. Aber ich glaube, ich war so gut, weil ich alles so gemacht habe wie immer. Und genau so muss ich weitermachen und mich nicht beeinflussen lassen.
Hatten Sie da Angst vor sich selbst, dass Sie sich nun ein bisschen zu sehr auf den Lorbeeren ausruhen?
Dafür bin ich nicht der Typ. Ich bin ehrgeizig genug und möchte vor allem auch mich selbst nicht enttäuschen. Ich will zeigen, was ich kann.
Was sind denn die Ziele für die neue Saison? Der nächste Klassiker-Sieg, zum Beispiel bei der Flandern-Rundfahrt?
Mir scheint, als versuchten alle, das nun aus mir herauszukitzeln. Das kam in meinen letzten Interviews etwas falsch rüber. Es ist jetzt nicht so, dass ich mich jetzt nur noch auf die Flandernrundfahrt vorbereite. Mein Ziel ist es wie in den Vorjahren, von Mailand-San Remo bis Paris-Roubaix eine Topform zu haben. Bei allen Rennen in diesem Zeitraum möchte ich ganz vorne dabei sein und, wenn es geht, wieder ein Monument [Als Radsport-"Monumente" gelten die klassischen Eintagesrennen Mailand - Sanremo, Paris - Roubaix, Flandern-Rundfahrt, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt. - Anm. der Redaktion] gewinnen. Das ist mein großes Ziel. Wenn es die Flandernrundfahrt wird, wäre das Triple der drei Monumente vollständig. Das wäre toll, aber wenn es nicht klappt, wäre das auch kein Problem.
Sie wirken, als habe sich für Sie nicht viel geändert seit ihren Klassikersiegen. Aber gilt das auch für ihre Stellung im Profi-Peloton?
Natürlich wird man nach solch großen Siegen anders wahrgenommen. Ich spüre mehr Verantwortung. Wenn es darum geht, die Renngestaltung zu übernehmen oder mit dem Team Löcher zuzufahren, ist da ein Unterschied. Die anderen Teams schauen stärker auf uns. Alle wissen, dass ich im Sprint etwas reißen kann. Deshalb ist es schon schwerer für die Mannschaft und mich. Wir sind aber Jahr für Jahr gewachsen und können diese Aufgaben meistern und die Verantwortung übernehmen.
Viel Verantwortung wird wieder bei der Tour de France auf Ihnen lasten. Sie waren schon so oft nah dran am Etappensieg, aber es hat nie geklappt. Was muss passieren, damit dieser Knoten platzt?
Das weiß ich auch nicht so genau. Ich werde einfach versuchen, so gut wie möglich vorbereitet an den Start zu gehen und in den Sprints mit reinzuhalten. Ich glaube, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich dort einen Sieg einfahren kann. Ich lasse mich nicht verrückt machen und versuche, locker zu bleiben. Vielleicht wollte ich nach dem erfolgreichen Frühjahr im letzten Sommer einfach zu viel. Ich war wohl etwas übermotiviert.
Nach der Tour folgen direkt die Olympischen Spiele. Eine olympische Medaille im Straßenrennen fehlt Ihnen noch. Aber können sie auf dem sehr bergigen Kurs in Rio de Janeiro überhaupt in den Kampf um Edelmetall eingreifen?
Ich glaube, eine olympische Medaille in Rio ist zu hoch gegriffen. Ich werde dort vermutlich keine Chance haben. Olympia ist natürlich ein großes Ziel, weil es für mich das größte Sportereignis ist und nur alle vier Jahre stattfindet. Aber dort zu gewinnen, scheint mir momentan nicht realistisch.
Ein realistischeres Ziel wäre der WM-Titel. Sie waren bereits mehrfach nah dran am Regenbogentrikot. Welche Stellschräubchen können Sie noch drehen, um dort gewinnen zu können?
Ich glaube, dass ich die Ruhe und Gelassenheit, die ich bei Mailand-Sanremo und Paris-Roubaix hatte, wo ich mich nicht verunsichern ließ und die richtigen Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt traf, bei der WM in Richmond (im vergangenen September, Anm. d. Red.) nicht hatte. Ich habe mich zu früh aus der Defensive locken lassen, habe zu viel gearbeitet und war zu viel im Wind. Am Ende fehlte dann die Kraft um mitzufahren. Wobei man sagen muss, dass Peter Sagan (der spätere Sieger aus der Slowakei, Anm. d. Red.) an diesem Tag auf einem anderen Level war und mit allen anderen gespielt hat. Das Regenbogentrikot bleibt mein großer Traum.
Werfen wir einen Blick voraus: 2017 startet die Tour in Deutschland. Was bedeutet das für den Radsport hierzulande?
Das ist eine große Nummer für uns und zugleich ein Zeichen, dass wir vieles richtig machen. Es ist schön, dass wir als deutsche Rennfahrer die Chance bekommen, dort dabei zu sein. Da geht für viele deutsche Radprofis ein Traum in Erfüllung.
John Degenkolb ist aktuell einer der erfolgreichsten Radprofis der Welt. Im Frühjahr 2015 gewann er die Klassiker Mailand-Sanremo und Paris-Roubaix und zeigte damit seine Klasse in Eintagesrennen. Auch bei Etappenrennen wie der Vuelta a España oder beim Giro d'Italia gewann der Sprint- und Klassikerspezialist bereits Etappen - nur bei der Tour de France blieb ihm ein solcher Erfolg trotz starker Leistungen bisher versagt. Gemeinsam mit seinen Kollegen Tony Martin und Marcel Kittel setzte er sich aktiv für die Wiederaufnahme der Tour-de-France-Übertragungen im deutschen Fernsehen ein und forderte harte Maßnahmen im Kampf gegen Doping. Degenkolb lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main und feiert am heutigen 7. Januar seinen 27. Geburtstag - bei der Präsentation seines Teams Giant-Alpecin in Berlin.