Natur lehrt Geschichte
15. Mai 2009Eine goldgelb lackierte Holzhütte mit zehn Fenstern. Daran schmiegt sich eine verträumte Auenlandschaft, in der Schilf, Wasser und saftig grüne Feuchtwiesen sich abwechseln. Die Vogelwarte von Naturschützer Dieter Leupold vom BUND für Umwelt und Naturschutz Deutschland steht im Randgebiet des ehemaligen Todesstreifens, genauer an den Brietzer Teichen. Die liegen auf halbem Weg zwischen Hamburg und Berlin, unweit des ehemaligen Grenzflusses Elbe.
Der Seeadler kehrt zurück
Schwarze Ferngläser der Besucher spähen aus den Holzluken nach Schwänen, Haubentauchern und Schilfrohrsängern - und nach einem ganz besonderen Vogel, sagt Leupold. "Besonders gefreut hat es uns, dass sich hier vor vier Jahren der Seeadler wieder angesiedelt hat." Er brütet nun einen knappen Kilometer entfernt vom einstigen Todesstreifen. Hier findet er viel frischen Fisch - an einem Ort, der zu Zeiten der innerdeutschen Grenze beinahe trockengelegt worden wäre.
Die Brietzer Teiche wurden damals großflächig entwässert, um im Sperrgebiet Ton abzubauen. Doch weder der DDR-Tonabbau, noch die spätere illegale Nutzung als Müllkippe konnten verhindern, dass das Gebiet nach der Wende renaturiert wurde. Große, für Vögel wichtige Flachwasserbereiche wurden angelegt. Die Tier- und Pflanzenwelt kehrte zurück, berichtet Leupold. "Die Wasserflächen wurden als Schlaf- und Rastplatz für nordische Gänse und Kraniche entwickelt. Das hat sehr gut funktioniert. Wir haben jetzt bis zu 600.000 nordische Gänse, die zum Schlafen im Winterhalbjahr hier herkommen."
Kraniche, die im Stehen schlafen, bekommen die Besucher heute nicht zu sehen. Dafür lassen sich Libellen blicken, viele Wasserfrösche sind zu hören. Insgesamt haben 600 gefährdete Tier- und Pflanzenarten in und um den einstigen Todesstreifen ihr Zuhause. Damit ist er zum längsten Biotopverbund Deutschlands geworden, genannt das "Grüne Band". 1400 Kilometer zieht sich dieses Band entlang der vormaligen innerdeutschen Grenze, von der Ostsee im Norden bis hinunter an die Mittelgebirge unweit der deutsch-tschechischen Grenze im Süden.
Natur, die gerne auch mal ungestört bleibt
Am ehemaligen Grenzfluss Elbe und in seinen Seitenarmen fand ein flinker Fischräuber seine Heimat, der Fischotter. Ihn bekommen Besucher nur selten zu sehen, erklärt Liana Geidezis vom Projektbüro Grünes Band, während sie am Ufer eines Seitenarmes die nach Moschus riechenden Hinterlassenschaften inspiziert. "Wenn das Hochwasser zurückgeht, dann werden Schlammflächen frei", sagt Geidezis und zeigt unter einer Brücke auf ein Schlammhäufchen. "Das schiebt der Fischotter zusammen und kotet dann oben drauf."
Kein schlechtes Symbol dafür, dass die biologische Vielfalt am Grünen Band sich nicht immer auf den ersten Blick erschließt. An vielen Stellen entzieht sie sich geschickt dem Auge des Betrachters. Und dennoch ist einzigartig, was hier im Schatten der Grenze entstand. Das bestätigte auch die UNESCO. Die Flusslandschaft Elbe wurde zum besonders strikt geschützten Biosphärenreservat erklärte, 650 Flusskilometer sind hier noch im Naturzustand.
Zauberwort "sanfter Tourismus"
Diesen Naturzustand will Susanne Gerstner, die junge Geschäftsführerin des Naturschutzzentrums Burg Lenzen, für die Menschen zugänglich machen. Sie wartet am Elbufer auf eine Besuchergruppe, die mit einer Fähre übersetzt. Wenige Meter entfernt auf dem Elbdeich thront ein Zeuge der Vergangenheit. Gerstner und die Besuchergruppe erklimmen die außen angebrachte Stahlwendeltreppe eines für Touristen renovierten DDR-Grenzturmes. "Dieser Grenzturm gehört natürlich zu den markantesten Punkten in der Landschaft, er symbolisiert geradezu den Eisernen Vorhang", sagt Gerstner auf der Besucherplattform und deutet auf die ausgedehnten Auwälder am Elbufer. "Alles das, was wir hier Schönes vor Augen haben, war im Prinzip für die Menschen vor Ort für fast 40 Jahre nicht einsehbar."
Durch "sanften Tourismus" will die in Westdeutschland geborene Naturschützerin Geschichte und Natur der Grenzlandschaft Elbe erfahrbar machen und der einheimischen Bevölkerung der strukturschwachen Grenzregion eine ökonomische Zukunft aufzeigen.
Doch gibt es diesen schonenden Tourismus? Susanne Gerstner will den Beweis antreten und führt ihre Besucher auf das Hofgut der Familie Pauli. Ein mit graubraunem Schilf gedecktes Fachwerkhaus steht dort, umringt von Streuobstwiesen und Schafweiden. Dort sollen die "grünen Radtouristen" neben einem ökologisch geführten Bauernhofidyll übernachten und die Grenzgeschichte und den Naturraum Elbe entdecken.
Das Haus der Paulis grenzt unmittelbar an den Elbdeich. "Die Natur, die Grenzsituation, das Dorf im Sperrgebiet, plus ein Haus was die Sperrzeit überlebt hat und dann wiederbelebt wurde", sagt Besitzer Wolfgang Pauli, "das alles sagten wir, wäre eine runde Sache". Und mit Enthusiasmus entwickelte die Familie Erholungsangebote für eine deutsche Nachwendegeneration, die mit Stacheldraht und Todesschüssen und auch mit der Einmaligkeit der Flusslandschaft Elbe nur noch wenig anzufangen weiß.
Naturschützer Dieter Leupold und Familie Pauli sind sich einig, dass die Beschäftigung mit der Natur ein Schlüssel für die Aufarbeitung der innerdeutschen Geschichte sein kann, gerade für Kinder und Jugendliche. "Wer das wirklich mal erlebt hat, schreiende Kraniche oder Laubfroschkonzerte, das sind Erlebnisse, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen", sagt Leupold und widmet sich dann wieder dem Froschkonzert an diesem historischen Ort.
Autor: Richard A. Fuchs
Redakteur: Daniel Scheschkewitz / Kay-Alexander Scholz