Warum die Jungen keine Volksparteien wählen
27. Mai 2019Die Grünen in Deutschland feiern: 20,5 Prozent der Stimmen haben sie bei der Europawahl bekommen, fast doppelt so viel wie bei der Europawahl 2014 (10,7 Prozent). Damit sind sie nach der Union (CDU und CSU) zweitstärkste Kraft.
Besonders bei den jungen Wählern konnten sie punkten: 34 Prozent der Unter-25-Jährigen wählten grün. Anders sieht es aus bei den Wählern über 60: Von ihnen stimmten nur 13 Prozent für die Grünen, aber 40 Prozent für die Union. Auch AfD und SPD waren bei den älteren Wählern erfolgreicher als bei den jungen. Wie lassen sich diese stark auseinander klaffenden Ergebnisse erklären? Haben die bisherigen Volksparteien CDU/CSU und SPD eine "Generationenschwäche"?
Ja, meint die Politikwissenschaftlerin Sigrid Roßteutscher. Sie lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt und leitet eine Langzeitstudie zum Wahlverhalten in Deutschland. "Die Volksparteien kommen nicht mehr ran an die jungen Wähler", sagte sie der DW. Das habe sich bereits bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern abgezeichnet und scheine sich nun zu verfestigen.
Den Grünen in Deutschland sei der Generationenwandel innerhalb der Partei gelungen. Mit Annalena Baerbock, Robert Habeck oder Ska Keller habe sie authentische, jugendliche Spitzenkräfte.
CDU und CSU profitierten hingegen klassischerweise von ihren Stammwählern - das Problem dabei: ihr Alter. "Schon bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern konnte man im vergangenen Jahr sehen: Die meisten Wähler gehen der Union verloren, weil sie sterben", sagt Roßteutscher.
Kein "Rezo-Effekt"
Der Erfolg der Grünen lasse sich aber auch durch ihre thematische Fokussierung erklären, meint Roßteutscher - auf den Klimaschutz, das Kernthema der Grünen. Dafür spricht auch die Tendenz der Juniorwahl, einer simulierten Wahl an Schulen, bei der Minderjährige abgestimmt haben. Auch hier lagen die Grünen vorne - und das Tage vor Veröffentlichung des "Rezo-Videos". Nicht erst die letzten Tage vor der Wahl scheinen also entscheidend gewesen zu sein.
Das zeigte auch eine vor der Wahl veröffentlichte DW-Analyse zum Einfluss der jungen Wähler auf die politischen Kräfteverhältnisse. Der Klimaschutz war bereits im Vorfeld eine Priorität für junge europäische Wähler, wie eine YouGov-Umfrage vom April zeigte. Vor allem in den westeuropäischen Mitgliedsstaaten war erwartet worden, dass die jungen Wähler stark den Grünen zuneigen.
Dass die Mobilisierung der jungen Leute nicht erst in den vergangenen Wochen begonnen hat, sieht auch Politikberater Martin Fuchs so. Der Frust unter den Jugendlichen habe sich schon lange aufgebaut. Er meint: Auch die Fridays for Future-Bewegung sei nur erfolgreich gewesen, weil Enttäuschung und Vertrauensverlust schon da gewesen seien - sie waren der Nährboden für die Bewegung. Fuchs schult politische Institutionen und Parteien in digitaler Kommunikation. Unter anderem hat er mehrere Bundesministerien, Landesregierungen sowie Landesverbände von CDU, Grünen und Linken beraten.
Roßteutscher betont: Zwar sei die zunehmende Politisierung der Jugend zu begrüßen - gleichzeitig dürfe man nicht vergessen, dass das Engagement der jungen Leute in Sachen Umwelt und Klimaschutz eine "Gymnasialbewegung" sei. Zu den Klimademonstrationen gingen vor allem Kinder aus gut gebildeten Haushalten - und die wählten dann auch grün. Junge Wähler mit niedrigem Bildungshintergrund seien immer noch zum großen Teil Nichtwähler. Die müssten die Volksparteien ansprechen, da sie für sich in Anspruch nähmen, sich auch um "die kleinen Leute" zu kümmern.
Fuchs findet: Die Volksparteien müssten "aufhören, Sonntagsreden zu halten" und die jüngere Zielgruppe endlich ernstnehmen. Dazu gehöre auch, zu versuchen, die jungen Menschen außerhalb der traditionellen Parteistrukturen einzubinden. "Junge Leute haben wenig Interesse daran, sich kontinuierlich einer Struktur anzuschließen. Sie wollen temporär in Projekte eingebunden werden und nicht im Hinterzimmer mit den alten Granden über Kommunalpolitik diskutieren", sagte er der DW.
Schlechte Kommunikation?
Aber nicht nur wegen ihrer Inhalte erreichen CDU, CSU und SPD die jungen Wähler nicht mehr: Problematisch ist auch ihre Art der politischen Kommunikation, meint Berater Fuchs. Die findet heutzutage zu großen Teilen in sozialen Medien statt. "Im Gros werden die von den Parteien allerdings falsch genutzt", sagt Fuchs. Viele Parteien hätten die Relevanz der sozialen Medien unterschätzt, weil es lange auch ohne sie ging. Nun müssten sie lernen, Social Media anders zu nutzen. Soziale Netzwerke seien keine "Pressemitteilungsversendestation". "Es geht um das Dialogische, es geht um Partizipation und auch um Transparenz." Dafür brauche es aber ganz andere Strukturen innerhalb der Parteien.
"Die Stabilität des Parteiensystems ist ins Schwanken gekommen"
Was bedeutet die neue Verteilung der Stimmen nun für die deutsche Parteienlandschaft? "Die Stabilität des Parteiensystems ist ins Schwanken gekommen", meint Roßteutscher. Statt zweier großer Parteien werde es in Zukunft viele ähnlich starke Parteien geben. "Wir werden kompliziertere Regierungsbildungen haben."
Der gestiegene Einfluss der jungen Wähler scheint kein kurzfristiger Effekt zu sein. Auch wenn ihr Anteil an der Wählerschaft immer noch geringer ist als der ihrer Eltern und Großeltern, werden sie die politische Landschaft wohl verändern. In Deutschland geht das bereits los.
Das sieht auch Roßteutscher so: Die Existenz von CDU und SPD sei ernsthaft bedroht, meint die Politikwissenschaftlerin. Wenn sie sich nicht schleunigst um die junge Generation bemühten, steuerten sie auf einen "schleichenden Exodus" zu. "Keine Partei hat eine Ewigkeitsgarantie."