Der Alkoholhölle entkommen
11. Juni 2010Donnerstagabend, kurz nach 18 Uhr im Hinterzimmer einer kleinen Leipziger Kirchengemeinde. Lothar und Günther verteilen Kaffeetassen und Wasserflaschen auf einem Konferenztisch. Es geht entspannt zu zwischen den beiden Rentnern, kurz reden sie über die ersten heißen Tage in der Stadt, dann verschwindet Günther in der Küche und kocht Kaffee.
Lothar rückt derweil ein paar Stühle zurecht. Seit knapp zehn Jahren hat der 65-Jährige weder Bier, noch Wein oder gar Schnaps angerührt. Er ist trocken, bezeichnet sich trotzdem als Alkoholiker. Ob er sich heute sicher sei, dass die Abhängigkeit vorbei ist? Lothar überlegt nur kurz, dann spricht er langsam und überlegt. Wie lange er schon abstinent sei, ist irrelevant, so der ehemalige KFZ-Mechaniker. "Das Glas Alkohol steht immer nur einen Arm weg von mir." 40 Jahre lang hat Lothar getrunken, davon die letzten 10 Jahre exzessiv. Die vielen Jahre seiner Sucht sieht man ihm trotzdem kaum an.
Lothar besucht die Treffen der Anonymen Alkoholiker seit acht Jahren regelmäßig jede Woche, egal ob es draußen schneit oder stürmt oder Feiertag ist. "Ohne diese Meetings würde mir etwas fehlen. Niemand hier lacht über mich, wenn ich von meinen Problemen erzähle."
Länger als Lothar ist nur Günther dabei. Seit 15 Jahren ist er trocken, hat seitdem kaum eine Sitzung der "AAs", wie sich die Anonymen Alkoholiker selbst nennen, verpasst. Günther war ein so genannter Spiegeltrinker, hat am Tag zwei bis drei Flaschen Schnaps gebraucht, "um überhaupt zu funktionieren". Ein Dutzend Entzugstherapien hat er hinter sich, die nie viel gebracht haben. Jedes Mal hing er nach ein paar Wochen wieder an der Flasche. Seitdem er regelmäßig zu den Meetings der AAs kommt, hat er seine Sucht im Griff. "Das ist dieses Gefühl hier, unter Leuten zu sein, die dich und deine Krankheit verstehen." Nur hier könne er offen über seine Alltagsprobleme sprechen, Ballast abwerfen und über seine größte Angst reden, nämlich wieder in die Hölle des Alkohols abzurutschen.
Machtlos gegenüber dem Alkohol
Die Alkoholhölle kennen alle acht hier im Raum, die mittlerweile um den großen Konferenztisch sitzen. Ihr Meeting beginnt mit dem Verlesen der so genannten zwölf Schritte, dem Leitfaden der AAs. Erster und wichtigster Schritt: "Wir geben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern konnten." Danach erzählt jeder aus der Rund, was ihn gerade beschäftigt.
Jan, Mitte 30, selbständiger Bauunternehmer, versucht die ersten Pubertätsschübe seiner 12-jährigen Tochter zu verstehen. Sie stelle ihm Fragen, die er nicht beantworten kann, das mache ihn nervös. Auch mit der Firma laufe es nicht optimal, seine Frau habe gerade keine Zeit für seine Probleme. Er wirkt hilflos, doch nach ein paar Minuten löst sich seine Anspannung. Am Ende stellt er fest, dass vielleicht alles nur ein wenig Zeit brauche, damit es wieder besser läuft. Die Anderen in der Runde hören schweigend zu, niemand gibt ihm gute Ratschläge oder versucht, auf ihn einzureden.
Nach Jan spricht Max. Er ist ebenfalls Mitte 30 und in der Medienbranche zu Hause. Max reflektiert in der Runde über seine Zeit als Trinker. Seit gut einem Jahr ist er trocken, hat mehrere Therapien hinter sich. Das Schwierigste sei gewesen, sich selbst die Erkrankung, die Alkoholsucht einzugestehen. "Auch viele Therapeuten haben mein Saufen immer im Kontext meiner anderen Probleme als normales Verhalten interpretiert. Dass ich getrunken habe und deshalb Beziehungsprobleme und Probleme mit meiner Arbeit hatte, das wusste ich lange Zeit nicht."
Schonungslose Offenbarung
Nach und nach kommt jeder am Tisch zu Wort. In den knapp zwei Stunden, die sie hier beisammen sitzen, reden sie viel über Gefühle, Ängste und ihre Sorgen, aber auch über scheinbar Belangloses. Jeder spricht, so lange er will und über das, was ihn beschäftigt, erklärt Günther in der Pause. "Wir reden immer nur über uns, niemals über andere. Jeder darf aussprechen, keiner wird unterbrochen." Die eigene Gefühlswelt ordnen und sich schonungslos Anderen öffnen, darum gehe es hier. Was verdammt schwer klingt, bekommen die Acht am Tisch scheinbar problemlos hin. Das klappe so gut, weil nur ein Alkoholiker einen anderen Trinker wirklich verstehen könne, meint Lothar. "Die Geschichten gleichen sich, jeder kennt die Probleme des Anderen aus seiner eigenen Biografie. Es schwebt ein ganz besonderer Geist im Raum." Selbst die Angehörigen, die ihren Alkoholiker lieben, hätten dieses Verständnis nicht. "Auch sie denken letztendlich: Na, der muss doch nicht Trinken."
"Aber der Alkoholiker muss trinken, das zeichnet ihn ja aus", meint Lothar. Als Trinker konnte er sich ein Leben ohne Alkohol nicht vorstellen. "Das hieß, nie wieder Spaß haben, nie wieder Lachen, so sah ich mein Leben ohne Schnaps und Bier." Dass es anders geht, weiß er, seitdem er die Treffen der Anonymen Alkoholiker besucht.
Glückliche Alkoholiker
Nach der konzentrierten, problembeladenen Gesprächsrunde wirken fast alle im Raum gelöst - befreit von ihren Alltagssorgen. Gemeinsam räumen sie noch die Kaffeetassen vom Tisch, beim Abwasch in der Küche wird entspannt weitergeplaudert, gescherzt, gelacht. Mittendrin, mit einem Lächeln im Gesicht, steht Lothar. Heute gehe es ihnen gut, denn heute sind sie trocken, meint Günther noch, bevor er sich aus der Runde verabschiedet und langsam zu seinem Auto geht. Doch selbst die Sache mit dem Glück sei für ihn, den ehemaligen Trinker, heute eine andere. Denn wenn das Glück zu groß wird, sei das nicht gut, es mache leichtsinnig. Deshalb sagen sie hier bei AA immer: "Wenn es dir schlecht geht, dann geh ins Meeting. Wenn es dir gut geht, dann renne ins Meeting."
Autor: Ronny Arnold
Redaktion: Kay-Alexander Scholz