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Der Amoklauf und seine Nachahmer

Kersten Knipp25. Juli 2016

Amokläufe folgen oft in kurzen Abständen aufeinander. Das ist kein Zufall. Vieles spricht dafür, dass Verbrechen dieser Art Nachahmer finden. Eine entscheidende Rolle spielt die Art und Weise der Berichterstattung.

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Deutschland Polizeikräfte nach dem Amoklauf in München (Foto: picture-alliance/AA/S. Widmann )
Bild: picture-alliance/AA/S. Widmann

Der Amokläufer von München schlug am 22. Juli zu - auf den Tag genau fünf Jahre, nachdem der norwegische Rechtsextremist Anders Breivik 77 Menschen getötet hatte. Es ist nicht auszuschließen, dass Ali David S., der in München neun Menschen erschoss, sich Breivik zum Vorbild genommen hatte.

Fest steht: Amokläufe ziehen oft Nachahmungstaten nach sich. Entsprechende Daten gibt es bislang vor allem aus den USA. Die fatalen Folgen von Amokläufen sind in den USA sehr präsent: Im statistischen Mittel zählt man dort alle zwölfeinhalb Tage einen Amoklauf mit mindestens vier Toten. Amokläufe an Schulen registriert man alle 32 Tage.

Die US-amerikanische Mathematikerin Sherry Towers von der Arizona State University hat die Frage untersucht, ob diese Verbrechen in irgendeinem Zusammenhang miteinander stehen. Insbesondere wollte sie herausfinden, ob Amokläufe Nachahmungstäter finden.

Dafür hat sie insgesamt 468 solcher Verbrechen untersucht. Verübt wurden sie im Zeitraum zwischen Februar 2005 und Januar 2013 auf dem gesamten Staatsgebiet der USA.

Fatale Anziehungskraft

Die Analyse läßt einen Schluss zu, schreibt sie: "Wir finden signifikante Hinweise, dass mit Schusswaffen ausgeführte Morde mit mindestens vier Toten auch von ähnlichen Ereignissen in der unmittelbaren Vorzeit angeregt werden." Die höchste Gefahr bestehe innerhalb der ersten 13 Tage nach einem Amoklauf. In diesem Zeitraum steige das Risiko weiterer Amokläufe um 22 Prozent.

Deutschland Berichterstattung Presse zum Amoklauf in München (Foto: Getty Images/J. Koch)
Aufmerksamkeit ist Amokläufern gewiss. Versammelte Reporter in MünchenBild: Getty Images/J. Koch

Amokläufe, so Towers weiter, hingen ganz wesentlich von der Verfügbarkeit entsprechender Waffen ab. In den USA sei die Gefahr, dass Jugendliche erschossen werden könnten, fünf Mal höher als in anderen industrialisierten Ländern. 87 Prozent aller mit einer Schusswaffe getöteten Menschen zwischen 0 und 14 Jahren lebten in den USA.

Einen vergleichsweise geringen Einfluss auf das Zustandekommen hätten hingegen psychische Erkrankungen. Umso größer sei der Einfluss der Berichterstattung über solche Fälle. Sie könnte Jugendliche bewusst oder unbewusst zur Nachahmung animieren.

"Eine solche Form ansteckenden Denkens ist nicht unplausibel", schreibt Towers. So können labile Jugendliche empfänglich für die Vorstellung des Selbstmords sein, wenn darüber zuvor in Massenmedien berichtet wurde. Ebenso hat sich erwiesen, dass Berichte über Mord und Selbstmord entsprechende Taten ansteigen lassen."

Macht der Bilder

Auch der US-amerikanische Anthropologe und Soziologe Loren Coleman schreibt den Medien eine große Verantwortung zu. Bei der Berichterstattung über Amokläufe müsse man auf die Wortwahl achten. So sollte nicht über "erfolgreiche" Gewehrattacken oder "misslungene" Selbstmorde berichtet werden, meint der Autor eines Buches über Nachahmungstäter. Zudem gelte es, stereotype Bilder vom "netten Jungen von nebenan" oder dem "einsamen Spinner" zu vermeiden.

Die an der Universität Princeton lehrende Soziologin Zeynep Tufekci weist auf die Macht der Bilder hin: Schwerbewaffnete Attentäter oder Amokläufer suggerierten Allmacht - und lüden entsprechend zur Nachahmung ein. Darum sollten die Medien mit solchen Bildern ebenso zurückhaltend umgehen wie mit dem Namen des Attentäters. Würde dieser veröffentlicht, suggeriere dies eine Popularität, die sich auch mögliche Nachahmungstäter wünschten.

Deutschland Hausdurchsuchung in München (Foto: picture-alliance/dpa/T. Hase)
Was trieb den Münchner Amokläufer? Polizisten sichern persönliche Gegenstände des TätersBild: picture-alliance/dpa/T. Hase

Identifikation mit Rächerfiguren

In Deutschland ist die Forschung zu Amokläufern noch relativ jung. Sie setzte ein, nachdem der Schüler Robert Steinhäuser im April 2002 an einem Erfurter Gymnasium 16 Menschen erschoss und sich anschließensd selbst umbrachte.

Der Entschluss, Menschen in einem Amoklauf zu töten, ziehe sich meist über mehrere Monate hin, sagt die Gießener Juristin und Kriminologin Britta Bannenberg. Überwiegend finde er vor dem Computer statt. Dort identifiziere sich der Nachahmer mit seinem Vorbild, dort lege er sich auch eine Rechtfertigung seiner Tat zurecht.

Viele führten Tagebuch oder erfänden fiktive Geschichten, in denen sie die Tat umschrieben. Sie umgäben sich mit Waffen und Scheinwaffen, entwürfen Abschiedsbotschaften oder dächten darüber nach, welche Kleidung sie bei der Tat tragen sollten.

"Immer wieder lesen sie von anderen Tätern, schauen Dokumentationen und Videos von Taten an, spielen Ego-Shooter, um sich vorzustellen, wie sie die Tat ausführen werden," erläutert die Kriminologin Bannenberg.

Medien seien für Nachahmungstäter unverzichtbar, weil sie Informationen über frühere Amokläufe zur Verfügung stellen. "Sie spielen eine wichtige Rolle, weil sie zur Identifikation einladen. Es geht immer um Identifikation mit Rächerfiguren und mit Vorbildern, die ähnliche Taten begangen haben."

Zerrissenheit und Schwäche der Täter

Umso mehr, schreibt der Psychologe Jens Hoffmann in seiner Studie "Amok - ein neuer Blick auf ein altes Phänomen" käme es darauf an, den teils spektakulären Bildern von der Tat deren ernüchternde Hintergründe gegenüber zu stellen.

Er empfiehlt, sachlich über Amokläufe zu berichten. "Werden junge Täter wie Robert Steinhäuser weder dämonisiert noch schuldlos hingestellt, wird ihre Biographie in ihrer ganzen Zerrissenheit und Schwäche gezeigt. So kann die Vorbildfunktion des jugendlichen Amokläufers merklich abgeschwächt werden."