Terror und Weltöffentlichkeit
3. Januar 2015Es war das Ereignis, das alles verändern sollte: Am 14. April 2014 entführte die Terrorgruppe Boko Haram fast 300 Schülerinnen aus dem kleinen Ort Chibok im Nordosten Nigerias. Plötzlich schaute die Welt auf eine Region, die schon vorher unter dem Terror der islamistischen Gruppe gelitten hatte, nun aber endlich die verdiente öffentliche Aufmerksamkeit bekam.
Der Terror wird zu Breaking News
Auch vor dem 14. April hatten wir schon mehrfach für die Deutsche Welle über die Grausamkeiten von Boko Haram berichtet, deren Spezialität es ist, ganze Dörfer im Schutz der Dunkelheit zu überfallen und zu vernichten. Scheinbar sinn- und ziellos schlachten sie die Einwohner brutal ab - egal ob Christ oder Moslem, jung oder alt. Danach plündern sie alles, was ihnen in die Hände fällt und setzen den Rest in Brand. Es ist eine zerstörerische Brutalität, die jeden Beobachter ratlos lässt. Mehrfach reisten wir in die Gegend, um nach Erklärungen des Unerklärlichen zu suchen und mit den vielen Opfern der Gewalt zu sprechen. Nach dem 14. April und der darauffolgenden Veröffentlichung eines Videos der Terrorgruppe, das die hilflosen und verängstigten Schülerinnen bloßstellte, wurde das Thema über Nacht zu Breaking News.
Wieder machten wir uns auf in den Nordosten Nigerias - nun allerdings zusammen mit fast allen großen internationalen Sendern. Wir reisten nicht bis Chibok, denn ein Aufenthalt in dieser Region ist für Journalisten bis heute lebensgefährlich. Hier kontrolliert Boko Haram ganze Landstriche. Aber wir schafften es trotzdem mit der Unterstützung des nigerianischen DW-Kollegen Ibrahim Abubakar, mit einer aus der Boko Haram-Gefangenschaft geflohenen Schülerin und Angehörigen der Mädchen zu sprechen.
"Wir haben keine Hoffnung mehr"
Jeder Journalist, der regelmäßig Krisenregionen bereist, muss aufpassen, dass er nicht innerlich abstumpft - dass die unfassbaren, brutalen, tragischen Erzählungen der Opfer nicht irgendwann an ihm abprallen. Doch das, was die Bewohner aus Chibok zu erzählen hatten, war schier unfassbar. Sie erzählten von Lehrern und Soldaten, die die jungen Frauen einfach im Stich ließen. Von Terroristen mit einer Verachtung jeglichen menschlichen Lebens. Und von einer Regierung, die es nicht für nötig hält, die Angehörigen der Opfer in irgendeiner Weise über die Geschehnisse zu informieren - geschweige denn ihre Unterstützung anzubieten.
Acht Monate später bleibt vor allem die Hoffnungslosigkeit des Vaters einer Schülerin im Gedächtnis: "Die Mädchen sind jetzt vollkommen in der Gewalt von Boko Haram. Wenn es eine Chance gäbe, unsere Töchter zurückzubekommen, hätte es doch eigentlich schon passieren müssen. Wir haben nichts mehr, was uns Hoffnung geben könnte." Leider sollten sich seine Befürchtungen bewahrheiten. Als im Oktober die Regierung verkündete, man habe einen Waffenstillstand mit den Terroristen geschlossen und auch die Mädchen kämen bald frei, konnten selbst die größten Optimisten nicht daran glauben - hatten sie doch schon zu viele Lügen der Regierung gehört. Einige Tage später verkündete Gouverneur Godswill Akpabi dann auch zynisch, die Journalisten hätten bei der angeblichen Freilassung der Schülerinnen "wohl etwas missverstanden".
Die Angst der Verantwortlichen
Ist also jede Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage unberechtigt? Das mögliche Ende des Terrors in Nigeria ein unrealistischer Traum? Auch seit dem berüchtigten 14. April wurden hunderte Menschen von Boko Haram entführt. Nur, dass sie es nicht mehr wie die Mädchen aus Chibok ganz oben auf die internationale Nachrichtenagenda geschafft haben. Unter den Entführten ist auch ein deutscher Lehrer, von dem weiterhin jede Spur fehlt. Allein im November tötete Boko Haram mehr als 700 Menschen in Nigeria - nur im Irak gab es noch mehr Terror-Opfer.
Trotzdem sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass 2015 ein besseres Jahr für Nigeria wird. Denn es sind zumindest erste Anzeichen eines Umdenkprozesses in der nigerianischen Regierung erkennbar. Es sind vor allem Anzeichen einer nachlassenden Überheblichkeit gegenüber dem eigenen Volk und kritisch nachfragenden Journalisten. Konkret zeigte sich das für uns vor kurzem in einem auf den ersten Blick paradoxen Erlebnis: Als wir unsere journalistischen Akkreditierungen als Auslandskorrespondenten für die nächsten Monate verlängern ließen, wurde sehr viel genauer hingeschaut und nachgefragt als zuvor. Ein Mitarbeiter im Informationsministerium erklärte uns vertraulich, die Verantwortlichen seien "durch die massive und kritische internationale Berichterstattung nach der Chibok-Entführung eben ziemlich aufgeschreckt". Das erste Mal hätten sie die geballte Macht einer kritischen Öffentlichkeit zu spüren bekommen. Wir werden sicherlich nicht aufgeben, sie auch im kommenden Jahr diese Macht spüren zu lassen.
Adrian Kriesch und Jan-Philipp Scholz berichten für die Deutsche Welle seit dem 1. September 2014 aus Lagos in Nigeria über West- und Zentralafrika.