Der Brückenbauer
9. April 2012In einem Interview mit der Deutschen Welle im November 1992 betonte Lew Kopelew: "Es gibt kein anderes Beispiel für eine solche geistige Verbundenheit zweier Völker wie die Geschichte des deutsch-russischen gegenseitigen Kennenlernens." Dies sei der Kern seiner Studien in Wuppertal gewesen. An der dortigen Universität hatte der am 9. April 1912 in Kiew geborene Wissenschaftler zehn Jahre lang über die deutsch-russischen Beziehungen geforscht.
Obwohl er sich der Heimat Goethes, Schillers und Manns so verbunden fühlte - freiwillig verbrachte er hier nicht die letzten Jahre seines Lebens. Im Februar 1981 hatte der damalige Parteichef der KPdSU, Leonid Iljitsch Breschnew, seine Ausbürgerung unterschrieben. Kopelew war zu dem Zeitpunkt in Deutschland, zum ersten Mal in seinem Leben.
Immer wieder hatte man ihn eingeladen: Der deutsche Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll machte den Anfang, als er 1962 Moskau besuchte. Kopelew wollte damals nach Deutschland - und durfte nicht. Regelmäßig wurden seine Bitten und die seiner Ehefrau Raissa - ebenfalls Schriftstellerin - abgelehnt. Irgendwann ließen sie es sein. Dass die beiden Anfang der 1980er Jahre noch einmal einen Antrag stellten, lag an einem Versprechen des Sowjet-Regimes, wie Kopelew später in dem Gespräch mit der Deutschen Welle erklärte: Moskau hatte dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt zugesagt, er und seine Ehefrau dürften nach der Reise in die Bundesrepublik wieder zurück. Das war Kopelew wichtig: Die Sowjetunion war seine Heimat. Eine Heimat, die er liebte. Trotz allem.
Fast zehn Jahre in Gefängnissen
In der Ukraine, damals Teil der UdSSR, wurde er als Sohn eines Agrarwissenschaftlers geboren, hier hatte er Germanistik, Philosophie, Literatur und Geschichte studiert, hier galt er als moralische Instanz: 1941 meldete er sich zur Roten Armee und versuchte, Grausamkeiten beim Einmarsch in Ostpreußen zu verhindern. Wegen "bürgerlich-humanistischer Propaganda des Mitleids mit dem Feind" verurteilt, musste Kopelew für fast zehn Jahre in Gefängnisse. Nach der Rehabilitierung 1956, nach Stalins Tod, war er Dozent in Moskau. Doch mit seinem Engagement für Regimekritiker seit 1966 nahmen die staatlichen Schikanen wieder zu. Mit der Schreckenserfahrung in Lagern des Gulag und nach dem Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen zum Beispiel in Prag wendete er sich vom Kommunismus ab, auf den er lange Zeit Hoffnungen gesetzt hatte.
Über diese Entwicklung sagte er später: "Als wir gegen die ungerechten Verfolgungen andersdenkender Menschen auftraten, war es nicht ein Kampf gegen das Regime. Wir wollten das Regime gerecht machen. Wir wollten es bessern. Wir wollten es reformieren. Wir waren keine Revolutionäre." Er und seine Mitstreiter hätten lange Zeit daran geglaubt, dass das Regime reformierbar sei.
Doch das Regime wollte ihn 1981 nicht mehr. "Wir dachten, dass sie es ehrlich meinten, ein Gentlemen's Agreement", sagte Kopelew später über die Ausreisegenehmigung. Doch es war eine Falle - für das Ehepaar ein Schock: "Wir waren verbittert und verzweifelt." Aber dann sei es auch eine Befreiung gewesen, "eine Befreiung von allen Verpflichtungen gegenüber diesem sowjetischen Staat".
Noch einmal Moskau
Köln wurde die neue Heimat der beiden, hier kämpfte Lew Kopelew für eine Aussöhnung zwischen Russen und Deutschen. In seinem wissenschaftlichen Projekt in Wuppertal arbeitete er das Deutschlandbild der Russen und das Russlandbild der Deutschen heraus. Und wieder traf er Heinrich Böll, mit dem er seit zwei Jahrzehnten, seit dessen Moskau-Besuch eine Brieffreundschaft pflegte. Über ihn sagte der Dissident später: "Er war einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben." Als der Deutsche 1985 starb, war Kopelew einer der Träger seines Sarges.
Sein eigener Weg endete am 18. Juni 1997 in Köln. Seine Urne wurde nach Moskau überführt, wo die Asche auf dem Donskoi-Friedhof neben seiner Frau Raissa Orlowa beigesetzt wurde. Dank der politischen Veränderungen in Moskau konnte Kopelew vorher noch mehrere Male in seine russische Heimat reisen, bleiben wollte er da aber nicht mehr. In der rheinischen Metropole Köln erinnert seit 2009 ein Lew-Kopelew-Weg an den großen Versöhner. Seit 2001 wird in unregelmäßigen Abständen vom Lew Kopelew Forum ein Preis in seinem Namen verliehen. Mit ihm sollen "Menschen, Projekte oder Organisationen“ ausgezeichnet werden, "die im Sinne Lew Kopelews tätig sind".