Der chinesische Underground brodelt digital
19. Februar 2002Die Berlinale als wichtigstes Filmfestival in Deutschland besteht nicht nur aus dem prominenten Wettbewerb und einem großen Filmmarkt. Die Filmfestspiele zeichnen sich vor allem durch die Vielfalt der Beiträge in den Nebensektionen aus.
Neben dem Panorama hat hier vor allem das Internationale Forum des Jungen Films ein klares Profil entwickelt: Es widmet sich seit 1971 speziell dem unabhängigen und alternativen Film, dem Film der Entwicklungsländer und dem Kino abseits der Genres und der Marktforderungen.
Dieses Jahr stellt das Forum in seinem Länderschwerpunkt insgesamt 13 Produktionen aus der Volksrepublik China vor: "Elektrische Schatten" heißt das Programm - die wörtliche Übersetzung von "Dian Ying" - "Film" aus dem Chinesischen. Zufällig aber passend beschreibt dieser Titel die Werke einer neuen Generation von jungen, unabhängigen Filmschaffenden im Schatten des offiziellen China.
"Elektrische Schatten"
Kamen im Forum-Programm schon in den letzten Jahren rund ein Drittel der Filme aus Asien, so ist dieses Jahr vor allem auffällig, dass es kaum noch die in früheren Jahren so beliebten Hongkongfilme zu sehen gibt. Und das liegt nicht daran, dass Hongkong nicht mehr Kronkolonie ist und damit diese sehr westlich geprägte Filmtradition zu Ende wäre - einige Hongkong-Regisseure wie Johnnie To sind auch dieses Jahr vertreten. Sondern der Grund ist, dass laut Forumsleiter Christoph Terhechte der Hongkongfilm mittlerweile von den Arthouseverleihern und -kinos so gut verbreitet wird, dass das Forum hier nicht mehr die Aufgabe des Vermittlers übernehmen muss.
Stattdessen widmet sich das Forum dem spannenden unabhängigen Filmschaffen in China. Mit neuer Technik und neuen Themen werden hier Filme besonders für den ausländischen Markt und für Festivals hergestellt - und das Forum kann einen ganzen Strauß an Filmen zeigen, die den engagierten und überraschenden Aufbruch junger Filmemacher in China dokumentieren.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Filme und Videos verbindet die Produktionen ein enormes Mitteilungsbedürfnis. "Es ist die Pflicht meiner Generation, die jetzige Phase des Umbruchs unserer Gesellschaft zu dokumentieren", erklärt ein junger Regisseur, der lieber anonym zitiert werden möchte.
Die DV-Revolution hat schon begonnen
Weil die Verfügbarkeit von Digitalequipment diese Lawine ins Rollen gebracht hat, wird in Peking, dem Zentrum des unabhängigen Films, derzeit gerne auch von der "DV-Revolution" gesprochen. Und das ist angesichts der Verhältnisse in China kein sinnentleerter Werbeslogan: Das neue Kino aus China bestürzt, verwundert und provoziert eine Debatte um den dramatischen gesellschaftlichen Wandel des Landes.
Vorherrschende Themen sind die brennenden sozialen Probleme - Obdachlosigkeit, Drogen, Arbeitslosigkeit und die Folgen der Science-Fiction-artigen Urbanisierung des Riesenreichs. Aufgrund der Direktheit der Darstellung kann dabei oft gar nicht mehr zwischen Spielfilm und Doku unterschieden werden.
Wie nahe Fiktion und Dokumentation im neuen chinesischen Kino beieinanderliegen, zeigen zwei Produktionen über lesbische Liebesbeziehungen - bislang kein Thema im chinesischen Filmschaffen.
Fast komplementär ergänzen sich die Dokumentation "He zi" ("The Box") von Ying Weiwei, in der die beiden Protagonistinnen mit bemerkenswerter Offenheit über chinesische Familienstrukturen und Geschlechterbeziehungen reden - und der Spielfilm "Jin nian xia tian" ("Fish and Elephant") von Li Yu. Die Regisseurin hat als Schauspielerinnen ein authentischen Paar gefunden - beide sind Laien, und vielleicht glaubt man den beiden auch deswegen so bereitwillig jeden eifersüchtigen, verliebten, traurigen Satz, den sie vor Elefantenkäfigen oder in schicken Boutiquen so von sich geben.
Eine ähnliche Verwandtschaft verbindet die Dokumentation über Wanderarbeiter von Ning Ying "Xi wang zhi lu" ("Railway of Hope") mit Du Haibins Langzeitbeobachtung "Tie lu yan xian" ("Along the railway"). Ning Ying begleitet arbeitsuchende Südchinesen auf ihrer mehrtägigen Zugreise zur Baumwollernte in die westliche Provinz Xinjiang. Unterwegs erfährt sie, warum die Menschen diese furchtbare Reise dennoch glücklich und zuversichtlich stimmt. Entlang den Schienen - das erfährt man in Du Haibins Portrait einer Gruppe von Obdachlosen - sieht das Leben noch um einiges hoffnungsloser und finsterer aus.
"Along the railway" zeichnet eine große, von Sympathie getragene Nähe zu den Protagonisten aus. Diese Darstellung von Realität, die auf Emotionen und Ethik weitaus mehr Wert legt als auf eine distanzschaffende, glatte Professionalität, gehört zu den hervorragenden Kennzeichen des neuen Kinos aus China.
Wie im letzten Jahr informiert der NetloungeDV-Site über digitales Video im Berlinale-Programm. Es gibt Videoclips mit Interviews von Regisseuren, die über ihre Erfahrung im Umgang mit DV berichten.