Der Eiserne Vorhang der Ökologie
18. Januar 2020In Bulgarien erzählte man sich früher gerne diesen Witz: Es gibt fünf Feinde des Kommunismus - den Kapitalismus und die vier Jahreszeiten. Es scheint, dass sich die Geschichte wiederholt; die größte Herausforderung für die zehnjährige Herrschaft des bulgarischen Premierministers Bojko Borissow geht heute wieder von der Natur aus.
In mehreren Städten finden regelmäßig Proteste gegen die ungezügelte Bauwut an der bulgarischen Schwarzmeerküste oder gegen die Zerstörung von Lebensraum wilder Tiere statt. Und die Kommunalwahlen im vergangenen Jahr wurden plötzlich vom Thema Luftverschmutzung überschattet. Dazu kam auch noch der Skandal um Müll, der illegal aus Italien importiert wurde, möglicherweise in Zusammenarbeit mit der Mafia.
Und dann ist da auch die Krise wegen des Wassermangels in der Stadt Pernik. Bulgarien ist ein Gebirgsland, eigentlich gibt es hier genug Wasser. Allerdings nicht, wenn Korruption und Inkompetenz im Spiel sind.
Inkompetenz gepaart mit Korruption
Der Sündenbock, der den verärgerten Bürgern angeboten wurde, ist der Umwelt- und Wasserminister Neno Dimov. Er wurde festgenommen und musste sein Amt niederlegen. Das war eine echte Premiere für Bulgarien: Sogar in kommunistischen Zeiten wurden Funktionäre zuerst gefeuert und erst dann verhaftet. Eine plausible Erklärung für den Vorgang jetzt: Das war die einzige Möglichkeit, um die Bürger von Pernik zu beruhigen, die nur ein paar Stunden am Tag Wasser haben.
Nenov, ein Mathematiker, war für diesen Job natürlich höchst unqualifiziert. Nun wurde er durch einen anderen Nomenklatura-Kader ersetzt, einen Spezialist für Volkstanz und Zoll, der auch für Lobbyismus bekannt ist.
Die Opposition beantragte ein Misstrauensvotum, und es gab Proteste, aber Borissow blieb: Der Premierminister scheint sich auf das begrenzte Interesse seiner Untertanen an ökologischen Fragen verlassen zu können. Mit Recht.
Ein neuer Eiserner Vorhang
Die Ökologie hat Europa durch einen neuen Eisernen Vorhang geteilt, diesmal nicht in Ost und West, sondern in Nordwest und Südost. Wie kann man sonst die schwache Unterstützung für grüne Bewegungen erklären, nicht nur im von der Kohle abhängigen Polen, sondern auch in Griechenland, Bulgarien oder Italien - Ländern, die wegen ihrer Abhängigkeit vom Tourismus und der Landwirtschaft auf möglichst unberührte Natur angewiesen sind?
Die grüne Welle, die durch Deutschland, Frankreich oder Großbritannien gefegt ist und die alte sozialdemokratische Linke zu verdrängen beginnt, scheint zu den Ländern, die sie am dringendsten brauchen, nicht vorzudringen.
Der europäische Süden und Osten, der später als der Westen und der Norden industrialisiert wurde, hat weniger unter Umweltverschmutzung gelitten. Hier ist die Industrie ist nach wie vor ein Traum, und alle Forderungen nach einem Wachstumstopp und nach Mäßigung im Konsum werden als koloniale Arroganz angesehen. Das Aufholen auf den industriellen Westen ist hier seit fast zwei Jahrhunderten die führende Ideologie.
Der Egoismus der Osteuropäer
Länder wie Bulgarien oder die Slowakei, Süditalien oder Litauen sind erst vor wenigen Generationen urbanisiert worden, und wie wir wissen, entsteht das ökologische Gewissen erst, wenn die Natur verloren gegangen ist. Grüne Parteien sind liberal im kulturellen Sinne und befürworten wirtschaftliche Stagnation, was sie zu einem perfekten Feind sowohl für die Rechten im Kampf gegen den "grünen Sozialismus" als auch für die Linken im Kampf gegen "staatenlose Globalisten" macht.
Dabei hat der östliche Teil des Kontinents eine Art dickhäutigen Egoismus entwickelt, wahrscheinlich als Reaktion auf die vom kommunistischen ideologischen Apparat geforderte Zwangsgroßzügigkeit. "Rechts" oder "neoliberal" scheinen irreführende Begriffe für dieses seltsame Phänomen zu sein. Die Natur ist heutzutage das letzte einvernehmliche öffentliche Gut, das unsere immer stärker fragmentierten Gesellschaften vereint. Aber sich um das Gemeinsame zu kümmern, um das was allen gehört, ist in den postkommunistischen Ländern gar nicht angesagt.
Die mangelnde Begeisterung, sich an den Bemühungen zur Rettung des Planeten zu beteiligen, erinnert an die offensichtliche Weigerung der gleichen Länder, während der Krise 2015-2016 Flüchtlinge mit einer anderen Religion und Hautfarbe aufzunehmen. Der eiserne Vorhang für Flüchtlinge scheint stark der Geographie des ökologischen Eisernen Vorhangs zu folgen.
Ökologie als Vehikel
Einst war die grüne Energie eine wichtige Kraft beim Sturz der sowjetischen Diktatur. Die Katastrophe von Tschernobyl und das Austrocknen des Asowschen Meeres gehörten zu den schwersten Schlägen, die der UdSSR zugefügt wurden. Was Bulgarien betrifft, begann die dortige schüchterne antikommunistische Mobilisierung 1988 mit der Schaffung eines Komitees, um die Stadt Russe vor der Verschmutzung von der rumänischen Seite der Donau zu bewahren.
Doch im Zuge des Abbaus des totalitären Systems wurden die ökologischen Probleme schnell auf die Seite geschoben. Die Grünen in Bulgarien sind heute nicht einmal im Parlament vertreten. Und in den anderen Ländern ist die Lage nicht besser.
Es sieht eher nicht danach aus, dass es in Osteuropa einen Aufschwung an echten grünen Ideen geben wird. Aber erinnern wir uns an den Fall des Kommunismus. Grüne Themen wurden damals instrumentalisiert, um das viel größere Ziel zu erreichen: die Diktatur zu besiegen. Die Proteste der bulgarischen Bürger gegen den Wassermangel oder gegen die Luftverschmutzung könnten einen viel größeren Ärger über die Privatisierung der öffentlichen Ressourcen - eine quasi-feudale Herrschaft - und über die Perspektivlosigkeit verbergen. Wenn dies der Fall ist, könnte uns ein weiteres (politisches) Tschernobyl bevorstehen.
Ivaylo Ditchev ist Professor für Kulturanthropologie an der Universität Sofia in Bulgarien. Er hat unter anderem in Deutschland, Frankreich und den USA gelehrt.