Der erste britische Toursieger
22. Juli 2012Nur einmal während der Tour de France 2012 verlor Bradley Wiggins die Kontrolle. Es geschah nicht im Sattel seines schwarzen Carbonrads, sondern vor Journalisten. Auf die Frage, was er über die Kritiker denke, die Vergleiche zwischen seinem dominierenden Sky-Team und Lance Armstrongs mehr und mehr im Dopingzwielicht stehenden US-Postal-Team ziehen, antwortete der sonst eher ruhige Brite: "Das sind beschissene W*****r! Ich geb' mich mit solchen Leuten nicht ab. Das rechtfertigt deren eigene Faulheit, weil sie selbst nichts auf die Reihe kriegen." Eine Eruption des aufgestauten Ärgers über den inzwischen ständigen Begleiter des Radsports – den Generalverdacht.
Wiggins, gegen den es bisher keine konkreten Dopingverdächtigungen gab, gewann die Tour 2012 souverän. Nach dem Zeitfahren von Bonneval nach Chartres auf der vorletzten Etappe war ihm der Gesamtsieg nicht mehr zu nehmen. Er bog am Sonntag (22.07.2012) als Triumphator auf die Pariser Champs-Élysées ein und wurde dort als erster britischer Toursieger gefeiert. Ein Sieg, der manchen überraschen mag, eigentlich aber auf Ansage kam.
Hungern für den Erfolg
Ende 2009 hatte Teamchef David Brailsford die mutige Aussage gemacht, binnen fünf Jahren einen britischen Toursieger zu präsentieren. Er hielt Wort. Mit Wiggins hatte der studierte Sportwissenschaftler und Psychologe genau den Fahrertyp gefunden, den er für sein großes Ziel brauchte: ein gewissenhafter Arbeiter, begnadeter Zeitfahrer und seit seiner Diät auch ein guter Bergfahrer. Für die Tour 2009, bei der der ehemalige Bahnspezialist und amtierende Olympiasieger in der Verfolgung Vierter wurde, hungerte sich der 1,89 Meter-Schlacks um acht auf 69 Kilogramm herunter.
Aber das war nicht alles, was Wiggins für den Toursieg ändern musste. Denn nicht immer lebte er das asketische Leben eines Vollprofis: Nach seiner Goldmedaille von Peking trank Wiggins Alkohol, viel Alkohol. Sechs Stunden täglich, erzählt er heute, habe er nichts anderes getan, als Bier zu trinken. Erst als seine Frau ein Kind erwartete, hörte Wiggins auf. Mittlerweile wohnt "Wiggo" mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in der 4353-Seelen-Gemeinde Eccleston im Norden Englands. Wenn er nicht auf dem Rad sitzt pflegt er dort seine Sammelleidenschaft, die er selbst mittlerweile eine "Manie" nennt: In der Garage stehen Vespas, im Haus liegt ein von Muhammed Ali signierter Boxhandschuh sowie ein Gitarrenmodell, das schon John Lennon benutzte.
Vater handelte mit Drogen
Obwohl heute ein Familienmensch erlebte Wiggins selbst keine leichte Kindheit. Er wurde 1980 im belgischen Gent geboren und schon zwei Jahre später verließ Vater Gary, ein australischer Radprofi, die Familie. In seiner Biografie "Auf der Jagd nach Ruhm" verarbeitete Wiggins seine Erinnerungen an den inzwischen verstorbenen Vater: "Gary hatte im Feld den Spitznamen 'Doc' und nahm nicht nur Amphetamine, sondern dealte auch damit." Seine Mutter erinnere sich noch immer an die Rennfahrer, die vor der Haustüre Schlange standen, um sich mit Pillen zu versorgen, schreibt Wiggins. "Einmal flogen wir gemeinsam nach Australien zu seiner Familie. Auf dem Rückweg schmuggelte er Drogen in meiner Windel nach Belgien."
Trotz allem wurde auch aus Wiggins ein Radprofi, der mit seinem Toursieg in die Fußstapfen seines "Rad-Idols aus Kindertagen" steigt: Der Spanier Miguel Indurain, der ebenso wie Wiggins die Basis für seine Erfolge im Zeitfahren legte. In den Bergen war bei dieser Tour nur einer stärker als Wiggins: Edelhelfer Christopher Froome, der auf so mancher Gebirgsetappe aufreizend gestikulierend zeigte, dass er der Stärkere ist, während Wiggins um den Anschluss kämpfen musste. "Chris wird eines Tages die Tour gewinnen und ich werde ihm hoffentlich dabei helfen können", versprach Wiggins, der nun auch der Topfavorit beim olympischen Einzelzeitfahren ist.