Der Exodus der Arbeitsplätze - ein modernes Märchen
3. Februar 2006Die Billiglohnländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Deutschland droht zu einer Basarökonomie zu verkommen, in der nur noch gehandelt, aber nicht mehr produziert wird. Das sind die populären Stammtischparolen, und sie sind, wie so viele zunächst einleuchtende Parolen, nicht wahr.
Noch im Frühjahr 2005 behauptete der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, deutsche Firmen würden bis 2007 rund 150.000 Jobs ins Ausland verlagern. Im September 2005 zeigte dann eine Umfrage desselben Verbandes, dass bei 37 Prozent der Unternehmen durch Auslandsinvestitionen auch die Beschäftigung in Deutschland gestiegen ist. DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun gab zu, das Arbeitsplatzsaldo sei insgesamt positiv.
Globalisierung sichert Arbeitsplätze
Das sehen auch die Gewerkschaften so. "Die deutsche Wirtschaft und die deutsche Beschäftigung haben vom Trend zur Globalisierung profitiert", sagt Wolfgang Rohde, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Zwar weiß auch er, dass allein zwischen 2001 und 2003 ein Viertel aller Betriebe des produzierenden Gewerbes zumindest Teile der Produktion ins Ausland verlagert hat. Dennoch verbleibe ein breites Spektrum wirtschaftlicher Aktivitäten in den Industrieländern, so der Gewerkschafter.
Mehr noch: Globalisierung hat zu einer positiven Arbeitsplatzbilanz geführt. Allein durch den Exportüberschuss der deutschen Metallindustrie wurden 2004 rund 850.000 wettbewerbsfähige Industriearbeitsplätze gesichert. "Das können wir all denen entgegenhalten, die dem angeblichen Exodus der Industriearbeit das Wort reden", sagt Rohde.
Mittelständler bleiben in Deutschland
Trotzdem wird in den Medien gerade dieses Bild gezeichnet. Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" formulierte, Deutschland sei nicht nur Exportweltmeister, sondern auch Weltmeister im Export von Arbeitsplätzen.
Das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung befragt alle zwei Jahre rund 1500 deutsche Unternehmen nach ihren Auslandsinvestitionen. Institutsmitarbeiter Steffen Kinkel hat dabei festgestellt, dass es überwiegend die großen Konzerne sind, die ihre Produktion ins Ausland verlagern und weniger die Mittelständler.
Nach Auffassung des Wirtschaftsexperten ist dieser Befund vor allem für die kleinen und mittelständischen Betriebe problematisch, die sich durch die Produktionsverlagerungen der Großkonzerne unter Druck gesetzt fühlen. Dennoch stimme das Bild, dass alle produzierenden Unternehmen Deutschland verlassen nicht mit der Wirklichkeit überein, so Kinkel.
Produktionsverlagerung birgt Risiken
Und das hat seine guten Gründe. Denn wer seine Produktion nur aufgrund der niedrigen Löhne ins Ausland verlagert, erzielt nicht immer den erwünschten Erfolg.
Aus qualitativen Studien wisse man, dass Auslandsinvestitionen nach zwei Jahren ernsthaft auf den Prüfstand gestellt werden, so Kinkel. Wenn sich bis dahin der erhoffte Erfolg nicht eingestellt habe, denke man oftmals ernsthaft über einen Abbruch nach. "Und dann lautet die Botschaft nämlich, dass auf jeden vierten bis fünften Verlagerer der Produktion zwei Jahre später ein Rückverlagerer kommt."
Bis zu ein Viertel der Unternehmen, die ihre Produktion ins Ausland verlagern, kehrt also wieder nach Deutschland zurück. Wenn es nicht bereits zu spät ist: Eine Studie des Fraunhofer-Instituts kommt zu dem Ergebnis, dass die Unternehmen, die sich entschieden haben, im Ausland zu produzieren, zweieinhalb mal mehr Zeit benötigten, als sie ursprünglich in ihren Businessplänen eingerechnet hatten.
Später Gewinn von Auslandsinvestitonen
Damit verschiebt sich auch der Zeitpunkt, an dem eine Investition Geld einbringt, gefährlich weit nach hinten, was mitunter existenzbedrohend sein kann. Die Entscheidung, mit der Produktion ins Ausland zu gehen, will also wohl überlegt sein und darf keinesfalls nur vom verlockend niedrigen Lohnniveau im Zielland geleitet sein. Ist sie allerdings einmal gefallen, muss das noch lange nicht bedeuten, dass in Deutschland eine Industriebrache zurückbleibt.
Im Gegenteil: Die deutschen Auslandsinvestitionen der chemischen Industrie und der Automobilindustrie haben seit 1994 dazu beigetragen, dass auch die Nachfrage nach chemischen Erzeugnissen und Autos, die in Deutschland produziert werden, im Ausland kontinuierlich gewachsen ist.
Thema wird mißbraucht
Christoph Scherrer von der Universität Kassel glaubt, dass Auslandsinvestitionen potenziell positiv seien. "Das gilt sowohl für das Entsende- als auch für das Zielland", so der Experte für Außenhandel. Allerdings werde das Thema oft für die Auseinandersetzungen mit den Belegschaften im In- und Ausland und auch gegenüber den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern missbraucht, die die öffentliche Förderung von Investitionen letztlich finanzieren.
Diese Kritik teilt auch IG-Metall-Vorstandsmitglied Wolfgang Rohde. Aus seiner Sicht wird der Vergleich mit Billiglöhnen im Ausland und das Märchen vom Exodus nur dazu genutzt, um gegenüber Gewerkschaften und Arbeitnehmern eine Drohkulisse aufzubauen. Manche Unternehmen hätten den Bogen bereits überspannt.
Deutschlandweit würden außertarifliche Leistungen gestrichen und Abweichungen vom Tarifvertrag durch die IG-Metall zugestimmt, erklärt Rohde. Doch trotz schwarzer Zahlen, angebotener Opfer der Belegschaften und tragfähiger Zukunftskonzepte, würden die Standorte in Deutschland geschlossen. "Samsung in Berlin, AEG in Nürnberg, Conti in Hannover stehen nicht für wirtschaftliche Schwierigkeiten, sondern für unersättliche Profitgier und skrupellose Managemententscheidungen."