Der Fall Nawalny: Warum ihm 30 Jahre Gefängnis drohen
18. Juni 2023An diesem Montag beginnt das Moskauer Stadtgericht mit der Prüfung eines neuen Strafverfahrens gegen den Dissidenten Alexej Nawalny, dem eine Reihe von Verbrechen vorgeworfen werden. Die Anhörung findet in einer Strafkolonie in der Region Wladimir statt, in der er bereits eine neunjährige Haftstrafe wegen Betrugs und Missachtung des Gerichts verbüßt.
Nawalny selbst rechnet aufgrund der neuen Anklagen mit einer Gefängnisstrafe von bis zu 30 Jahren. Auch seine Genossen befürchten ein hartes Urteil: "Wir gehen davon aus, dass der Prozess relativ schnell abgeschlossen sein wird und Alexei tatsächlich zu einer unvorstellbaren Haftstrafe von rund 30 Jahren verurteilt wird", sagte Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch der DW.
Es ist die erste politische Anklage gegen Nawalny
"Zum ersten Mal wird Nawalny aufgrund eines politischen Gesetzes, also wegen politischer Aktivitäten vor Gericht gestellt", betont sein Verbündeter Leonid Wolkow im Podcast der DW Novosti Show. Die Besonderheit des neuen Falles liege in seinem ausschließlich politischen Charakter.
"Der Kreml hatte immer gesagt: 'Seht, er ist ein Betrüger - er hat den ganzen Wald, die ganze Post, alle Spenden gestohlen. Er ist nur ein Dieb.' Deshalb versuchten sie, diese Prozesse so weit wie möglich in Schauprozesse umzuwandeln. Nawalnys neuer Fall ist jedoch rein politischer Natur. Er wird lediglich wegen all seiner politischen Aktivitäten angeklagt, die der Kreml seit 2011 rückwirkend für extremistisch erklärt", sagt Wolkow.
"Wir halten jedes mögliche Urteil von vornherein für rechtswidrig und den gesamten Fall für völlig erfunden", betont Jarmysch. "Deshalb werden wir natürlich unser Bestes tun, um die ganze Welt darüber zu informieren."
196 Aktenordner und ohne Journalisten im Gerichtssaal
Laut Jarmysch will die russische Justiz diesen Prozess aufgrund des "Mangels an Beweisen" so geräuschlos wie möglich durchführen. Zunächst wurde die Vorverhandlung vom 31. Mai auf den 6. Juni verschoben. Dann verlegte das Moskauer Stadtgericht die Vorverhandlungen und auch den Prozess selbst in die Strafkolonie, in der der Oppositionelle festgehalten wird.
Am 5. Juni ging Wolkow im DW-Gespräch noch davon aus, dass der Prozess komplett hinter verschlossenen Türen stattfinden würde: "Wir werden nur das Urteil erfahren. Der Kreml wird alles tun, um sicherzustellen, dass keine Informationen nach außen dringen".
Doch nach der Vorverhandlung am 6. Juni beschloss das Gericht, den ersten Prozesstag am 19. Juni in öffentlicher Sitzung abzuhalten. Demnach hätte auch die Presse den Gerichtssaal betreten können. Am 16. Juni stellte ein Sprecher des Moskauer Stadtgerichts klar, dass keiner der Journalisten direkt in den Saal gelassen werde, in dem der Prozess stattfindet. Sie könnten sich in einem speziellen Raum aufhalten und die Übertragung der Sitzung verfolgen. Allerdings war beim letzten Prozess gegen Nawalny der Empfang regelmäßig unterbrochen und beim letzten Wort des Angeklagten einfach abgeschaltet worden.
Der neue Fall gegen Nawalny umfasst 196 Aktenordner. Insgesamt werden dem Oppositionellen Verstöße gegen sieben Artikel des Strafgesetzbuches vorgeworfen. Dazu zählt die Organisation einer extremistischen Gemeinschaft (die Rede ist von der Anti-Korruptions-Stiftung, die am 9. Juni 2021 als "extremistische Organisation" eingestuft wurde), öffentliche Aufrufe zum Extremismus, die Rehabilitierung des Nationalsozialismus und die Beteiligung Minderjähriger an lebensgefährlichen Taten (gemeint sind Aufrufe zu Kundgebungen).
Der Gerichtshof für Menschenrechte entscheidet für Nawalny
Ausgerechnet am Tag der Vorverhandlung zum neuen Fall Nawalny hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg seine Entscheidung verkündet zu einer Klage, die Nawalnys Anwälte im August 2020 eingereicht hatten. Dabei ging es um die Weigerung der russischen Behörden, den im selben Jahr erfolgten Giftanschlag auf den Aktivisten zu untersuchen. Der EGMR stellte sich auf die Seite des Klägers und verwies auf die Verletzung des Artikels zum Recht auf Leben in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Das Gericht verurteilte Russland dazu, Alexej Nawalny 40.000 Euro wegen des moralischen Schadens zu zahlen. Die vom Kläger geforderten 300.000 Euro wurden als überhöht abgewiesen.
Es ist allerdings unmöglich, dieses Geld von den russischen Behörden einzutreiben, denn die Russische Föderation hat sich aus der Zuständigkeit des EGMR zurückgezogen und erkennt dessen Entscheidung nicht an. Dennoch bedeute die Gerichtsentscheidung, "dass Alexejs Leben tatsächlich in Gefahr war und die Russische Föderation dafür verantwortlich ist", sagt Jarmysch. "Unter dem Gesichtspunkt der reinen Wahrheitsfindung ist es eine wichtige Entscheidung. Trotz aller Weigerungen der russischen Gerichte, diese Fälle zu prüfen, beweist sie, dass unsere Anwälte Recht hatten."
Unterdessen teilte der Vertreter des Europarates der DW mit, dass der EGMR Beschwerden von Russen prüfen könne, wenn sich diese auf Verletzungen der Rechte russischer Bürger bezögen, die vor Mitte September 2022 stattgefunden hätten. Erst dann erlosch für Russland die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - sechs Monate nachdem Moskau im März 2022 seinen Austritt aus dem Europarat angekündigt hatte.
Adaptiert aus dem Russischen von Dmytro Hubenko