Der Frieden ist zurückgestellt
25. Dezember 2015"Israel baut seine internationalen Beziehungen jeden Tag aus und - was wichtiger ist - es gibt immer mehr Kontakte mit der arabischen Welt", sagte Israels Regierungssprecher Mark Regev der Deutschen Welle. "Israel hat dieses Jahr rund 20 Prozent aller globalen Investitionen in Cybersicherheit erhalten."
"Ich bin beunruhigt", bekennt dagegen Diana Battu, politische Analystin aus Ramallah und ehemalige Beraterin der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). "Unsere jungen Leute haben die Nase voll. Sie haben keine Zukunftsperspektive und sehen nicht, dass sich in der nächsten Generation daran etwas ändern wird."
Der Friedensprozess ist gescheitert, die Gewalt erneut eskaliert. Seit Mitte September haben Palästinenser 20 Israelis mit Messern oder Schusswaffen umgebracht, während Israelis mindestens 129 Palästinenser getötet haben, davon 81 angebliche Angreifer. Israel beschuldigt die palästinensische Führung, zur Gewalt anzustiften. Palästinenser halten dagegen, die Attacken rührten aus der Verzweiflung, die israelische Militärherrschaft nicht loszuwerden.
Israel hat seine Kontrolle über das Westjordanland 2015 noch verschärft. Bei den Wahlen im März konnte die regierende Likud-Partei die Opposition vernichtend schlagen und 30 Parlamentssitze gewinnen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat für seine vierte Amtszeit mit den Unterstützern der Siedler und Ultraorthodoxen eine Koalition von Hardlinern eingeschworen. Seine Regierung hat den Siedlungsbau in den besetzten palästinensischen Gebieten fortgesetzt. Mitte Dezember genehmigte die Stadtverwaltung von Jerusalem 891 neue Wohneinheiten in Gilo, einem jüdischen Quartier in Ostjerusalem.
Das Projekt wächst, betont Miri Maoz Ovadia, Sprecherin des Jescha-Rates, einer Dachorganisation israelischer Siedlungen. 600.000 Siedler leben zurzeit im Westjordanland und Ostjerusalem, in Gebieten, die Israel 1967 besetzt hat und die die Palästinenser zu ihrem zukünftigen Staat machen wollen. "Unsere Gemeinschaft wächst nicht nur schneller, unsere Familien haben auch eine höhere Geburtenrate", so Maoz Ovadia. "Israelis leben hier seit Generationen. Das ist unumkehrbar."
"Es bräuchte ein Wunder"
Unter Palästinensern mischt sich die Frustration über die israelische Besatzung mit Wut über die eigene Führung. Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde und Vorsitzender der PLO, hat seinen Posten nie verlassen, obwohl seine Amtszeit 2009 abgelaufen ist. Statt einen Nachfolger heranzuziehen, ist der 81-Jährige hart gegen Rivalen und Dissidenten vorgegangen und hat damit für die Zeit nach seinem Ausscheiden das Chaos quasi programmiert, kritisiert Ex-PLO-Beratrein Buttu. 65 Prozent der Palästinenser finden, Abbas solle zurücktreten, ergab jüngst eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts "Palestinian Center for Policy and Survey Research".
Doch 2015 sei in Wirklichkeit ein gutes Jahr gewesen, findet Mukhaimer Abu Saada, Politikwissenschaftler an der Al-Azhar-Universität in Gaza - aber nur im Vergleich mit anderen. Es gab keine Kriege, und das war eine Atempause nach den zerstörerischen 50 Tagen voller Gefechte zwischen Israel und der Hamas im Sommer 2014. Der 51-jährige Abu Saada konnte Gaza zwei Mal für Reisen nach Europa verlassen - auch das eine Seltenheit für die meisten Bewohner des von Israel abgeriegelten Küstenstreifens.
Insgesamt haben die Machtergreifung der islamistischen Hamas in Gaza 2007 und der Bruch zwischen ihr und der moderateren Fatah von Abbas im Westjordanland die Probleme der Enklave verstärkt, sagt Abu Saada. Ägypten öffne seine Grenze zum Gazastreifen nur noch, wenn Sicherheitskräfte der Fatah-dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde die Übergänge bewachen - und das sei unvorstellbar, solange beide Fraktionen zerstritten sind. Und Israel weigere sich, die Blockade gegen Gaza aufzuheben, solange dort die Hamas an der Macht ist. Das Ergebnis ist eine verarmte, isolierte Enklave, in der die überwiegend junge Bevölkerung mit einer Arbeitslosigkeit von 43 Prozent konfrontiert ist, so im Mai ein Bericht der Weltbank.
"Es braucht schon ein Wunder, um 2016 etwas Gutes in Gaza zu entdecken", sagt Abu Saada. "Das muss von Gott kommen."
Mehr israelische Extremisten
Tal Schneider, politische Beobachterin aus Tel Aviv, haben dieses Jahr zwei Morde erschüttert: Anfang Juli erstach ein radikaler Ultraorthodoxer die 16-jährige Shira Banki bei einer Demonstration von Lesben und Schwulen in Jerusalem. Wenig später verübten mutmaßliche jüdische Extremisten einen Brandanschlag auf ein Haus im Dorf Duma und töten dabei drei Palästinenser. "Wir beobachten mehr politische Untergrundaktivitäten in Israel", warnt Schneider. "Wir sehen auf beiden Seiten Extremisten, die uns kontrollieren."
Liberalen Israelis gibt der festgefahrene Verhandlungsprozess Anlas zur Beunruhigung. Anfang Dezember hat US-Außenminister John Kerry einen Aufschrei provoziert, als er kommentierte, Israel werde durch seine Dauerbesatzung des Westjordanlandes ein "binationaler Staat" werden.
Ministerpräsident Netanjahu hat geschworen, dass Israel kein binationaler Staat wird. Regierungssprecher Regev beschuldigt die Palästinenser, für den Verhandlungsstopp verantwortlich zu sein. Die Palästinenser sagen, sie werden nicht weiterverhandeln, wenn Israel weiterhin Siedlungen ausbaut.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Einig sind sich Israelis und Palästinenser darin, dass internationales Engagement sich kaum auf die Wirklichkeit im Nahe Osten auswirkt. Während der Krieg in Syrien ins fünfte Jahr geht, Europa über eine Million Flüchtlinge aufnimmt und sich vom "Islamischen Staat" bedroht sieht, verliert der israelisch-palästinensische Konflikt seine Rolle als außenpolitischer Schwerpunkt für Europa und die USA.
Im November hat die Europäische Union geregelt, dass Waren aus den israelischen Siedlungen entsprechend zu etikettieren sind. Maoz Ovadia vom Jescha-Rat nennt das "populistisch" und schätzt die Auswirkungen auf die israelische Wirtschaft im Westjordanland als gering ein.
Ex_PLO-Beraterin Buttu verweist auf die nahenden Präsidentschaftswahlen in den USA, die US-amerikanische Politiker garantiert verleiten würden, sich über den israelisch-palästinensischen Konflikt "pathetisch" zu äußern. "Was die laufende Intifada angeht", so Buttu, "so wird sie wahrscheinlich auf diesem niedrigen Level weitergehen. Und in der Hauptsache werden dabei Palästinenser sterben."