Der Herr der Filme
29. Januar 2003Am 6. Februar werden sich alle Kameras auf Berlin richten, denn dann beginnt das Stelldichein von Stars und Sternchen, und Filmfans werden erneut in die deutsche Hauptstadt pilgern. Welche Filme und Schauspieler bei der Verleihung am 15. Februar ausgezeichnet werden, entscheidet die Jury unter dem Vorsitz des kanadischen Regisseurs Atom Egoyan, selbst gekürter Teilnehmer. Zweimal wurde er auch für den Oscar nominiert. Seine bekanntesten Filme sind "Calendar" (1993), "Exotica" (1994), "Das süße Jenseits" ("The Sweet Hereafter", 1997) und sein neuestes Werk "Ararat" (2002).
Kanadier mit orientalischen Wurzeln
Egoyan wurde 1960 in Kairo geboren. Seine Großeltern waren Anfang des letzten Jahrhunderts vor dem türkischen Genozid aus Armenien nach Ägypten geflohen, seine Eltern siedelten später nach Kanada um. Seinen ungewöhnlichen Vornamen hat Egoyan übrigens dem ersten Atomkraftwerk Ägyptens zu verdanken, das in seinem Geburtsjahr gebaut wurde, damals noch ein Zeichen von Fortschritt und Prosperität.
Egoyan interessierte sich früh für Film und Theater, insbesondere für die Stücke von Samuel Beckett und Harold Pinter. Doch studierte er zunächst Internationale Beziehungen und klassische Gitarre am Trinity College in Toronto. Hier schrieb er auch seine ersten Drehbücher für Kurzfilme, die so erfolgreich waren, dass ihn das Filmemachen seitdem nicht mehr losließ. 1987 schliesslich der große Durchbruch beim Filmfestival in Montreal. Für den sorgte kein anderer als Wim Wenders. Der lehnte den Preis für seinen Film "Der Himmel über Berlin" dankend ab und schlug stattdessen Egoyan und seinen Film "Family Viewing" vor.
Doch der Liebling der Filmkritik musste noch einige Jahre auf seinen ersten kommerziellen Erfolg warten, der 1994 mit "Exotica" einsetzte. Zwei Jahre später stieg er endgültig in die Aristokratie des Kinos auf, als die französische Regierung höchst selbst ihn zum "Chevalier des Arts et des Lettres", also zum Ritter der Filmkunst adelte.
Melancholisches Kino mit surrealen Visionen
In seinen Filmen experimentiert Egoyan mit Realität und Illusion, mit Vorhersehung und Zufall. Einer seiner bekanntesten Filme, "Das süße Jenseits", basiert auf der deutschen Sage vom Rattenfänger von Hameln. In einem kanadischen Dorf kommen fast alle Kinder bei einem Busunfall ums Leben. Ein Rechtsanwalt bricht in die vor Trauer gelähmte Dorfgemeinschaft ein, um einen lukrativen Prozess gegen einen vermeintlich Schuldigen anzuzetteln.
Die langsam erzählenden Bilder und widersprüchlichen Charaktere sind typisch für Egoyan. Hinter einer scheinbaren Realität steckt immer auch eine surreale Welt, die das Vordergründige in Frage stellt.
Sein neuer Film "Ararat", der auch auf der Berlinale gezeigt wird, thematisiert den Völkermord an den Armeniern und trägt autobiografische Züge: ein armenisch-stämmiger Kanadier wird durch die Mitarbeit an einem Film über die Massaker von 1915 von seiner eigenen Geschichte gefesselt. Dabei wird ein Tabu aufgebrochen. Ein Trauma, das schon lange vergessen schien, betrachtet aus aktueller Perspektive.
Tausendsassa auf allen Bühnen
Doch wer glaubt, dass Egoyan mit seinen bisher 27 Filmprojekten voll ausgelastet ist, täuscht sich. Neben seiner Arbeit als Regisseur von Kinofilmen hat der Opernliebhaber auch schon inszeniert. Gerade arbeitet er an Wagners "Ring des Nibelungen" für die Canadian Opera Company. Außerdem entwirft er Kunstinstallationen, die in renommierten Museen ausgestellt werden. Warum also sollte es für einen solchen Tausendsassa nicht ein Leichtes sein, ganz nebenbei auch Leiter der Berlinale-Jury zu sein?