Krieg der Kinder
1. Juni 2008Ein Messer steckt im Brustkorb, ein Schraubenzieher daneben, alles ist voller Blut: Die britische Regierung startete in der letzten Woche eine landesweite Schockkampagne. Drastisch werden auf Plakaten die Folgen des Gebrauchs von Messern vorgeführt, mit Fotos von echten Fällen. Angriffe, wie sie auch Rob Knox zum Verhängnis wurden. Der 18-jährige Schauspieler, zuletzt im neuen "Harry Potter"-Film zu sehen, wurde in Kent bei einem Streit vor einer Bar erstochen. Fünf weitere Teenager wurden mit Messerstichen verletzt. England ist entsetzt, mal wieder.
Das Problem ist in Großbritannien schmerzlich vertraut. Meldungen über Morde von Jugendlichen an Jugendlichen gibt es beinah täglich. 2007 starben bei Angriffen allein in London 26 Teenager. Die meisten wurden erstochen, neun von ihnen erschossen. Besonderes Entsetzen erregte der tödliche Schuss auf den elfjährigen Rhys Jones in Liverpool. In diesem Jahr mussten bereits 14 Teenager durch tätliche Angriffe ihr Leben lassen."Kinder töten Kinder", schreibt die "Sun". Von einem "Krieg der Teenager" ist in Medien die Rede, und von einer "Epidemie tödlicher Jugendgewalt".
"Große Sorgen"
Messerstechereien in England, brennende Banlieus in Frankreich, Jugendgewalt ist ein europäisches Problem. Selbst das vermeintlich idyllische Schweden hat in Städten wie Malmö ein erhebliches Problem mit Jugendkriminalität. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble bezeichnete es bei der Vorstellung der Kriminalstatistik 2007 am 22. Mai als eine "der großen Sorgen", dass die Gewaltkriminalität der Jugendlichen um 4,9 Prozent zunahm.
Jochen Kersten, Professor an der Hochschule der Polizei in Münster, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesem Phänomen Jugendgewalt. Ein generelles Ansteigen der Jugendgewalt kann er nicht belegen, ein Anstieg wie in Deutschland könne sich auch mit der gestiegenen Bereitschaft erklären, Taten anzuzeigen. "Wir sehen aber in einer Problemgruppe Dinge, die uns sehr beunruhigen", sagt Kersten. "Das ist das europäische Problem: Diese Gruppe ist überproportional mit männlichen Nachkommen von Zuwanderern besetzt." Für Gewaltbereitschaft gebe es in dieser Gruppierung natürlich ein ganzes Bündel von Ursachen, von Armut bis Diskriminierung. Zu beobachten sei aber auch ein "Verständnis von Ehre und Respekt, die sich von den Begriffen der Mehrheitsgesellschaft weitgehend abgelöst hat. Fehlender Respekt nach ihrem Verständnis wird eben mit Gewalt beantwortet."
Schwarz gegen schwarz
In keinem anderen Land der Europäischen Union ist jedoch die Gefahr, Opfer eines bewaffneten Angriffs zu werden, so groß wie in Großbritannien, hat das Londoner Zentrum für Verbrechens- und Justizstudien berechnet. In die Mehrzahl der Messerstechereien sind junge Schwarze aus der westindischen und afrikanischen Minderheit verwickelt - als Täter und als Opfer. Oft geht es dabei um Revierkämpfe von Banden. "Wir haben hier ein klares ethnisches Problem", sagt Jürgen Kroenig. Der Journalist lebt seit vielen Jahren in London und gilt als Fachmann für Jugendkriminalität – nicht erst, seit er selbst einmal ein Messer am Hals hatte.
Einer der Hauptgründe wird im Kollaps der Familie gesehen: Der Anteil schwarzer Jungen, die ohne Vater aufwachsen, liegt in Großbritannien bei mehr als 50 Prozent. Die Machokultur der Banden scheint vaterlosen Jungs Ersatz für männliche Vorbilder zu bieten. Jack Straw, Justizminister im Kabinett von Gordon Brown, sprach von der "Krise der Vaterlosigkeit" und fordert die schwarze "Community" auf, mehr zu tun, um des Problems Herr zu werden.
Was tun?
Die toten Teenager haben in Großbritannien eine nationale Debatte losgetreten. Scotland-Yard sagt, dass die immer brutaleren Angriffe auf Jugendliche nicht allein von Polizisten eingedämmt werden könnten. Regierung und Opposition werfen sich gegenseitig vor, das Problem mit falschen Konzepten anzugehen. Die Tory-Opposition fordert, was Konservative immer fordern: Mehr Polizei, mehr Gefängnisse, law and order. Doch härteres Durchgreifen, wie Ausgangssperren für Teenager, wurde schon unter Tony Blair exerziert. Die Erfolge hielten sich in Grenzen. Die heutige Labour-Regierung setzt jetzt verstärkt auf Vorbeugung. Erziehungsminister Ed Ball machte rund 100 Millionen Euro zusätzlich für Präventions-Projekte frei.
Briten die unglücklichsten Teenager
Vielleicht schafft es Großbritannien dadurch, wieder zu einem lebenswerten Land für Jugendliche zu werden. Momentan ist dies definitiv nicht der Fall. Nach einer Studie des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) von 2007 sind britische Kinder und Teenager die unglücklichsten aller Industriestaaten. Sie trinken am meisten Alkohol, haben am frühesten Sex, hassen am häufigsten die Schule – und sind insgesamt am unzufriedensten mit ihrem Leben.