Der Krieg der Zahlen
2. Februar 2015Uwe Voigt, Sprecher der Polizei in Leipzig, macht keinen Hehl daraus, wie genervt er ist. "Seit Pegida und Legida stürzen sich alle auf die Zahlenangaben", sagt er. "Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Ich habe kein Interesse daran, noch etwas zu diesem Thema zu sagen."
In der Tat dreht sich bei der Diskussion um die fremdenfeindlichen Pegida-Demonstrationen alles um Zahlen. Erst als die neu gegründeten "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" im November 2014 Tausende Demonstranten auf die Straßen brachten, wurden sie ein Thema für die überregionale Presse. Als es im Dezember Zehntausende wurden, berichteten auch internationale Medien.
Das große Aufrechnen
Mit dem Versuch, die Demonstrationen auf andere Städte auszuweiten, wurden die Zahlenangaben immer wichtiger - insbesondere auch deshalb, weil Parteien, Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen zu Gegendemonstrationen mobilisierten. Die Aufrechnung der Teilnehmerzahlen erinnert zuweilen an Sportereignisse: 15.000 zu 250-Niederlage für den Pegida-Ableger in München, 2000 zu 150 in Braunschweig, 2000 zu 600 in Magdeburg, 1200 zu 90 in Frankfurt, so die Ergebnisse vom Montagabend (02.02.2014).
Die Angaben stammen meist von der Polizei – und werden von Experten bezweifelt. In Leipzig wurde die bisher größte Legida-Demonstration am 21. Januar auf 15.000 Teilnehmer geschätzt (im Artikelbild die Gegendemonstration). Nur 4000 bis 5000 Demonstranten – also nicht einmal ein Drittel davon - zählte dagegen die Universität Leipzig.
In Dresden schätzte die Polizei die größte Pegida-Demonstration am 12. Januar auf 25.000 Personen; das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und die Technische Universität Chemnitz kamen nur auf 17.000. In beiden Fällen hatten die Forscher jeweils drei unabhängige Zählteams verschiedene Methoden anwenden lassen.
"Das hat keiner begriffen"
Der Bewegungsforscher Dieter Rucht, der für das WZB die Zählung in Dresden geleitet hat, ist von den Abweichungen nicht überrascht. Menschenansammlungen zu zählen sei extrem komplex. Der Soziologe zählt sieben Methoden auf, die von der groben Daumenpeilung bis zu exakt ausgezählten Luftbildern reichen. "Für die Polizei ist das eine Randaufgabe, deshalb wird wenig Mühe darauf verwendet", sagt Rucht.
Bei der Polizei klingt das ähnlich. "Wir sind verantwortlich für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und die Durchsetzung des Versammlungsgesetzes - und nicht allein für Zahlen. Aber das hat keiner begriffen", sagt der Leipziger Polizeisprecher Uwe Voigt. Sein Dresdner Kollege Thomas Geithner nennt die Zahlen ein "Nebenprodukt" der Einsätze.
"Die Polizei führt keine Zählungen durch, sondern bestenfalls Schätzungen", sagt Geithner. Eigentlich sei dies noch nicht einmal Aufgabe der Polizei; man bediene lediglich eine mediale Erwartungshaltung. Auch in anderen Städten räumt die Polizei ein, die Zahlen nur recht grob zu erfassen. "Ich glaube nicht, dass es irgendeine Polizei gibt, die auf ihren Zahlen beharren würde", sagt Peter Beck vom Polizeipräsidium München.
Hinzu kommt, dass die Methoden variieren. "Da das Thema Polizei Aufgabe der Länder ist, existiert kein einheitliches Vorgehen beim Schätzen der Teilnehmerzahlen", erklärt Marco Pecht, Sprecher des rheinland-pfälzischen Innenministers Roger Lewentz (SPD), der derzeit der Innenministerkonferenz der Bundesländer vorsteht. Die Polizei brauche "Richtgrößen" für die Lagebewertung und damit für die Einsatztaktik, so Pecht. "Sie nimmt diese Schätzungen in erster Linie für ihre Zwecke vor und nicht für eine anschließende öffentliche Diskussion."
"Schluss! Aus! Sense!"
Doch genau diese öffentliche Diskussion wird durch die Zahlenangaben der Polizei beflügelt. Der Soziologe Dieter Rucht fordert deshalb ein einheitliches Verfahren für die Erfassung. "Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass die einzelnen Polizeidirektionen - oder wer immer damit befasst ist - nach ihrem eigenen Gusto vor Ort Zahlen schätzen", sagt Rucht. "So werden Quasi-Fakten in die Welt gesetzt, obgleich sie zuweilen keine realistische Grundlage haben."
Marco Pecht, Sprecher des rheinland-pfälzischen Innenministeriums widerspricht. "Es ist nicht Aufgabe der Polizei, Einstellungen oder Meinungsbilder in der Gesellschaft zu erheben. Das ist ein Bereich, der der Sozialforschung obliegt", erklärt Pecht. "Die bisherige Praxis reicht zur Einsatzbewältigung derzeit aus und das ist der entscheidende Punkt für die Sicherheitsorgane." Es gebe deshalb keinen Handlungsbedarf.
Die Polizeidirektion Leipzig zumindest will sich künftig nicht mehr vorwerfen lassen, falsche Zahlen zu verbreiten. "Wir haben gesagt: Schluss! Aus! Sense! Wir geben überhaupt keine Zahlen mehr heraus", sagt der Sprecher Uwe Voigt. "Dann müssen sich die Journalisten entweder selbst einen Überblick verschaffen oder mit den Zahlen leben, die der Veranstalter herausgibt."
Dennis Stute