Der Krieg und die Moral
17. Januar 2012"Hab' einen schönen Tag, Kumpel", sagt einer der Soldaten auf dem jüngst öffentlich gewordenen Videoclip, der eine kleine Gruppe US-Marines beim Urinieren auf getötete Afghanen zeigt. "Das ist doch wie eine goldene Dusche", sagt ein anderer Soldat. 39 Sekunden lang zeigt das Video die Elite-Soldaten bei der Leichenschändung. Sie haben es selbst aufgenommen.
Doch was geht in den Köpfen dieser Soldaten vor? Warum scheint bei ihnen jegliches Verständnis von Moral außer Kraft gesetzt zu sein? Der Sozialpsychologe Phil C. Langer war vor knapp zwei Jahren selbst in Afghanistan und hat dort für eine Studie Interviews mit Bundeswehrsoldaten über ihre Sicht auf den Einsatz geführt. "Ich warne in der Frage vor einem zu sehr vereinfachten Erklärungsmodell." Seiner Ansicht nach dürfe man den Tätern nicht vorschnell eine krankhafte Störung bescheinigen, durch die sie erst zu solchen Handlungen befähigt würden. "Aber auch eine Normalisierung von Gewalt im Krieg wäre ein vereinfachter Erklärungsversuch. Zu sagen, im Krieg ist Gewalt ja normal, das führt dazu, was ich eine zivilisatorische Beruhigung nennen würde." Für den 36-Jährigen liegt das Problem tiefer.
Vom Gewaltverzicht zum Gewaltexzess
"Wir leben in einer Gesellschaft, in der es um Gewaltverzicht geht, in der es ein absolutes Tötungstabu gibt, und das haben wir auch verinnerlicht. Aber dann muss man sich vorstellen, was das für Soldaten bedeutet, die im Krieg sind, die aus einer demokratischen, westlich modernen Gesellschaft kommend, plötzlich in eine Situation im Krieg müssen, in der die reale Anwendung von Gewalt eine positive Anforderung ist. Das ist ein völliger Switch von den zivilisatorischen Normen der Gewaltfreiheit zu einer militärischen Norm der Gewaltbereitschaft. Und das bedeutet psychologisch einen unglaublichen double bind."
Die Soldaten steckten in einem Dilemma - zwischen zwei sich widersprechenden Anforderungen. Mit dieser Situation müssen sie erst einmal zurechtkommen.
Das entschuldigt oder rechtfertigt keine der furchtbaren Taten – weder das Urinieren auf Getötete, noch das Posieren deutscher ISAF-Soldaten mit Totenschädel oder die Folterszenen im berüchtigten US-Militärgefängnis Abu Ghraib. Doch der Exzess könne als eine Art kompensierende Handlung angesehen werden.
Menschenrecht in Taschenformat
Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht sollten dies eigentlich verhindern. Doch was sind sie noch wert, wenn die Soldaten sie nicht in die Tat umsetzen? Langer ist der Meinung, dass man gerade deshalb moralische Werte stärker in die Ausbildung von Soldaten integrieren müsse. Man müsse die Wert-Maßstäbe in die Kriegsrealität überführen. "Momentan schaut es bei der Bundeswehr beispielsweise so aus, dass jemand eine Taschenkarte bekommt. Eine Taschenkarte, auf der auf rationaler Ebene so eine Art Do's und Don'ts aufgeschrieben sind."
Dabei glaubt Langer nicht, dass die Soldaten nicht gewusst hätten, dass sie etwas Falsches tun: "Gerade die Inszenierung der Fotos als etwas Besonderes zeigt auf einer unbewussten Ebene sozialpsychologisch an, dass durchaus ein Gefühl des Illegitimen vorhanden ist."
Der "Feind" ist kein Mensch
Ein Gewaltexzess, für den Langer auch propagandistische Feindbilder verantwortlich macht. Der Gegner sei nicht einfach nur ein Gegner, er werde kriminalisiert, entmenschlicht, nicht mehr als Mensch wahrgenommen. "Die Skizzierung der Taliban als unmenschlich führt dazu, dass eigene Soldaten über gewisse Konventionen hinweggehen", meint Langer.
Sabine Mannitz, Mitarbeiterin der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, mutmaßte in einem Standpunktepapier über die Menschenwürde in Kriegen bereits 2005: "Möglicherweise hätte die amerikanische Öffentlichkeit weniger gleichgültig reagiert, wenn es sich bei den bekannt gewordenen Folterungen von Gefangenen und bei den Grundrechtseinschränkungen der in Guantánamo Inhaftierten um Vorfälle im eigenen Land gehandelt hätte, denen nicht Afghanen oder Iraker, sondern US-Bürger zum Opfer gefallen wären."
Der perfekte Krieg
Ein Krieg ohne solche Feinbilder, ein Krieg mit moralischen Grundsätzen, der ethischen Maßstäben genügt, ist schwer vorstellbar - vielleicht gar nicht möglich. Aber dennoch ist er gewollt, schreibt Sabine Mannitz: "Das humanitäre Völkerrecht fordert ja selbst in der Extremsituation des Gewalthandelns noch den Rest an zivilisatorischer Selbstkontrolle ein."
Menschenrechte und Gewalt, militärischer Drill und Selbstkontrolle, Nachdenken und das bloße Funktionieren - diese Widersprüche werden sich so schnell nicht lösen lassen - wenn überhaupt.
Autorin: Laura Döing
Redaktion: Aya Bach