Der Kurvenstar
15. April 2003Von seiner traumhaften Wohnung mit Meeresblick in Rio de Janeiro aus arbeitet der 95-jährige Oscar Niemeyer, unbeeindruckt von den mehr als 500 Projekten, die er im Laufe seines langen Lebens weltweit entworfen hat. Für die Serpentine Gallery in London entwickelt er gerade einen Pavillon, in Ravello, Lissabon und Oslo entstehen Bauten mit seiner Signatur.
Vom Ruhestand will der Architekt, der Brasilia entworfen und zusammen mit dem Stadtplaner Lucio Costa in weniger als 4 (!) Jahren gebaut hat, nichts wissen. Der 1907 in Rio de Janeiro geborene Oscar Niemeyer gilt vielen als letzter lebender Großmeister der modernen Architekturgeschichte.
Nach Stationen in São Paulo, Rio de Janeiro, Buenos Aires, Lissabon, Paris und Brüssel zeigt nun das Deutsche Museum für Architektur (DAM) in Frankfurt am Main bis zum 11. Mai die Retrospektive "Oskar Niemeyer - eine Legende der Moderne".
Nicht nur Brasilia
Die Ausstellung zeigt Modelle der Schlüsselwerke Niemeyers, darunter die Regierungspaläste Brasilias, die Universität von Constantine in Algerien, der Haupsitz des Mondadori-Verlages in Turin und das Kulturzentrum von Le Havre an der französischen Kanalküste.
Die erste Etage des Museum ist ganz der fotografischen Dokumentation seiner Arbeiten gewidmet. Hier sind die jüngsten Projekte Niemeyers zu sehen, darunter die Aufsehen erregenden Museen in Niterói bei Rio und in Curitiba, deren Formen an ein Ufo oder auch an ein riesiges Auge erinnern.
Expression statt nackter Funktionalismus
Architektur ist für Niemeyer, anders als für seinen rein funktionalistischen Kollegen Le Corbusier, vor allem expressive und plastische Kunst. Geprägt von der Berg- und Flusslandschaft Brasiliens und die fast beliebige Formbarkeit des Betons ausnützend, hat Niemeyer eine plastische Formensprache entwickelt. Damit hat er sich als einer der wenigen Architekten der Moderne vom Dogma des rechtwinkligen Rasters, oder - wie Niemeyer selbst sagt — von der "technischen Logik" befreit. Die Kurve fasziniert ihn: "Die Kurve ist die Natur: Berge, Körper, Wasser. Alles fließt. Und man darf die Natur nicht immer überall gegen rechte Winkel rennen lassen. In meinem Haus, das ich mir 1953 über den Hügeln von Rio entwarf, habe ich den Pool um den Felsen herumgebaut, das Haus schwingt sich in den dichten Wald hinein. Die Natur kommt ins Haus, das Haus umfasst die Natur", sagte der letzte lebende Großmeister der modernen Architektur in einem Interview für den Ausstellungskatalog.
In Deutschland hat Niemeyer nur ein einziges Projekt realisiert: Das Wohnhaus für die Berliner Internationale Bauausstellung (1957) im Hansaviertel. Der lang gestreckte Bau wird von V-förmigen Stützen getragen - "Schottenhaus" nennt man diese Bauart in der Fachsprache.
Der Futurismus kommt wieder
In den 1960er- und 1970er-Jahren redeten manche abschätzig von Niemeyers "Manierismus". Doch die Kritik ist mittlerweile vor allem Bewunderung gewichen. Das aktuelle Design holt sich seine Inspiration in der Vergangenheit. Der Architekturkritiker Niklas Maak beschreibt das Phänomen so: "Die Retortenstadt Brasilia, die jahrzehntelang als Babylon einer hybriden, technokratischen und unmenschlichen Moderne verteufelt wurde, ist binnen weniger Jahre zum Mekka einer neuen Bewegung geworden, die weit über die Architektur hinaus die Ästhetik der Gegenwart prägt: Man könnte sie den Retrofuturismus nennen."