Wie türkisch ist Europa
13. Mai 2010Europäische Interessen und Verbindungen hatte bereits das Osmanische Reich als Vorläufer der modernen Türkei. Im 19. Jahrhundert gingen die Sultane von Konstantinopel wechselnde Zweckbündnisse mit westeuropäischen Ländern ein, darunter auch mit dem Deutschen Kaiserreich. Parallel dazu gab es im Osmanischen Reich Tendenzen einer Modernisierung und Öffnung hin nach Westeuropa.
1876 verfügte Sultan Abdülhamid II. die Einführung einer Verfassung und eines Parlaments, beide wurden aber schon zwei Jahre später wieder abgeschafft. Zudem verfügte das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert und noch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges über ausgedehnte Herrschaftsgebiete in Südosteuropa in Teilen Griechenlands, Mazedoniens, Bulgariens Serbiens und Rumäniens, die nach und nach unabhängig wurden.
Annäherung
Die Türkei in ihren heutigen Grenzen geht auf den Offizier und ersten Staatspräsidenten Mustafa Kemal Atatürk zurück. Der 1881 im damals noch türkischen Salonik (heute Thessaloniki, Griechenland) geborene Nationalist, General und Reformer betrieb seit 1920 von Ankara aus Vorbereitungen zur Gründung einer türkischen Republik.
Dazu wurden mit diktatorischer Härte grundlegende Veränderungen im öffentlichen Leben durchgesetzt: Die im Oktober 1923 gegründete Republik Türkei schaffte die Herrschaft der Sultane ebenso ab wie im März 1924 die Amts- und Machstellung der osmanischen Kalifen als islamische und staatliche Autoritäten und religiöse Oberhäupter aller Muslime. Die islamischen Gerichte wurden aufgelöst und die Scharia durch ein Rechtssystem nach Schweizer, deutschem und italienischen Vorbild ersetzt. Die neue allgemeine Schulpflicht auch für Mädchen stand unter Aufsicht eines säkular-republikanischen Erziehungsministeriums. Gefördert wurde die höhere Schul- und Universitätsausbildung für Frauen. Der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau folgte ab 1930 die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen.
Modernisierung von Oben
Die islamische Zeitrechnung wurde 1925 durch den westlichen Gregorianischen Kalender ersetzt, seit 1935 ist nicht mehr der muslimische Freitag, sondern der Sonntag der wöchentliche Feiertag in der Türkei. Ein weiterer Schritt der Westorientierung der Türkei war sprachlicher Natur: Ab 1928 wurde das bis dahin in arabischer Schrift geschriebene Hoch-Osmanisch mit persischen und arabischen Elementen durch die türkische Sprache und das lateinische Alphabet ersetzt. Der Koran wurde ins Türkische übersetzt. Zudem verfügte Atatürk ein Verschleierungsverbot und den Ersatz des traditionellen Fes durch westeuropäische Hüte.
Diese kulturellen und strukturellen Reformen in Richtung einer säkularen und westlichen Gesellschaft setzte Atatürk mit militärischer Härte durch. Das türkische Militär ging in den folgenden Jahrzehnten mehrfach mit brachialer Gewalt gegen Versuche einer Re-Islamisierung der laizistischen Republik vor. Rolle und Vorgehen des türkischen Militärs gehörten ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu den Hauptpunkten westlicher Kritik an den politischen Verhältnissen in der Türkei.
Westintegration
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Türkei NATO-Mitglied und 1949 Mitglied des Europa-Rates. Nach einer Bewerbung um Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG 1959 schlossen beide Seiten 1963 ein Assoziierungsabkommen mit dem Fernziel einer möglichen Mitgliedschaft. 1992 trat die Türkei der Westeuropäischen Union als assoziiertes Mitglied bei, 1996 war die Türkei das erste Nicht-EU-Land, das durch eine Zollunion mit der EU verbunden war.
Ein Beitrittsantrag der Türkei zur damaligen EG wurde 1989 abgelehnt, 1997 entschied der EU-Gipfel in Luxemburg dann, dass die Türkei zu einem späteren Zeitpunkt in den Rang eines möglichen Beitrittskandidaten aufrücken könne. Seit Dezember 1999 zählt die Türkei zu den Beitrittskandidaten, im Jahr 2004 wurde beschlossen, ein Jahr später offizielle Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.
Langwierige Verhandlungen
Die Verhandlungen mit der EU erweisen sich als schwierig, immer wieder gibt es Rückschläge. Die regierende gemäßigt-islamistische AKP bemüht sich, durch innenpolitische und wirtschaftliche Reformen ihre Position in den Beitrittsverhandlungen zu verbessern. Gleichzeitig dienen einige Reformen der AKP dazu, die militant säkulare und anti-islamistische Ausrichtung der türkischen Republik durch eine moderate Islamisierung auf demokratischem Wege zu ersetzen.
Gleichzeitig haben die Reformen der AKP der türkischen Wirtschaft einen Aufschwung beschert - im Unterschied zum Nachbarn Griechenland sind die türkischen Finanzen seit der Krise von 1991 solide und die Wachstumsraten liegen weit über dem EU-Durchschnitt. Die Türkei ist zu einer regionalen Wirtschaftsgroßmacht geworden. Dazu gehören marktbeherrschenden Positionen in den Nachbarländern im Nahen Osten sowie in den angrenzenden Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion und in Zentralasien.
Autor: Hartmut Lüning
Redaktion: Kay-Alexander Scholz