Der Missbrauch und die Macht der Kardinäle
20. Januar 2022Was wird von Joseph Ratzinger zu lesen sein? Wie wird die neue Studie den emeritierten, bald 95-jährigen Papst für sein früheres Handeln als Erzbischof von München und Freising (1977-1982) beurteilen?
An diesem Donnerstag erreicht die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland eine neue Dimension. Eine Münchner Anwaltskanzlei legt einen über Jahre erarbeiteten Bericht über "sexuellen Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener" im Bereich der Erzdiözese München-Freising vor. Untersucht wurde der Zeitraum von 1945 bis 2019.
Drei Kardinäle in der Verantwortung
München ist eine sehr wichtige, auch eine der finanzstärksten Diözesen in Deutschland. Aber vor allem: Aus dem Untersuchungszeitraum, der weiter gefasst ist als bei bisherigen Studien, leben heute noch drei Erzbischöfe, die allesamt Kardinäle waren beziehungsweise sind. Der emeritierte Papst, der offiziell nach seinem Rücktritt vom Petrusamt nur noch seinen bürgerlichen Namen hat und mit der Papstwahl 2005 den Kardinalstitel verloren hatte, führte das Erzbistum von 1977 bis 1982.
Auf ihn folgten Kardinal Friedrich Wetter (heute 93; Erzbischof von 1982-2008) und Kardinal Reinhard Marx (68), Erzbischof seit 2008, von 2014 bis 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Jeder Bischof oder Erzbischof ist der Letztverantwortliche für das, was in seiner Diözese geschieht.
Zur Erinnerung: Anfang 2010 flog dank des Muts von drei ehemaligen Schülern des Berliner Canisius-Kollegs, einer Jesuiten-Schule, der sexuelle Missbrauch in kirchlichem Kontext in größerer Dimension auf. Verbrechen durch Kirchenleute mit großen Opferzahlen waren da schon längst aus Irland und den USA bekannt, andere Länder folgten später reihenweise. Und seit 2010 versuchen sich die deutschen Bischöfe damit auseinanderzusetzen - und zugleich die Aktenkontrolle und Aufarbeitung nicht dem Staat zu überlassen.
Tätern über Personalakten auf der Spur
Von 2014 bis 2018 untersuchten Fachwissenschaftler verschiedener Institutionen Personalakten deutscher Diözesen aus dem Zeitraum von 1946 bis 2014. Es konnten aber längst nicht in alle Akten Einsicht genommen werden. Zudem waren einige Unterlagen unvollständig. Am Ende erklärten die Experten, 4,4 Prozent aller Kleriker, deren Akten gesichtet wurden, seien mutmaßlich Missbrauchstäter gewesen. Das ist mehr als jeder 23. Geistliche. Die Rede war von mindestens 3677 Betroffenen und 1670 Priestern und Ordensleuten, die als Täter galten.
Seitdem haben gut zwei Drittel der 27 deutschen Diözesen weitere Aufarbeitungsstudien angestoßen und zum Teil bereits veröffentlicht. Eigentlich immer werden dabei neue Missbrauchsfälle aufgedeckt. Gelegentlich sogar solche, die nach deutschem Strafrecht nicht verjährt sind und dann die Justiz beschäftigten. Nicht selten waren es Journalistinnen und Journalisten, die mit den Opfern diese akuten Fälle enthüllten.
Das Dossier im "Giftschrank" des Kardinals
Das Erzbistum Köln erregte wegen eines Hin und Her bei der erarbeiteten Studie bundesweit Aufsehen. Auch weil der sehr konservative Kardinal Joachim Meisner, bis 2014 im Amt und dann 2017 verstorben, Priester-Täter kurzerhand in einem eigenen Dossier als "Brüder im Nebel" in einem "Giftschrank" aufbewahrte. Außerhalb der Personalakten des Bistums. Das Erzbistum geriet letztlich auch über die Aufarbeitung in eine tiefe Krise voller Misstrauen gegenüber Meisners Nachfolger, Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki.
Und derzeit läuft in Köln ein Gerichtsverfahren gegen den gut 70-jährigen Pfarrer U., der Kinder sexuell missbrauchte und lange nicht gebremst wurde. Leitende Bistumsangestellte und - in dieser Woche - ein aktiver Erzbischof mussten als Zeugen im Gericht erscheinen. Wieder geht es um Verantwortung, vielleicht auch Schuld.
Der Priester-Täter, der die nun anstehende Studie aus München so spektakulär macht, heißt nicht Pfarrer U., sondern Pfarrer H. Diese Abkürzung steht für einen Geistlichen des Bistums Essen. Dieses Bistum wollte den Mann, der sich an Messdienern vergangen hatte, loswerden. So bat es 1980 - zu Zeiten von Erzbischof Ratzinger - die Erzdiözese München-Freising, den pädophilen Priester Peter H. aufzunehmen. Er solle eine Therapie machen.
H. zog nach Bayern, wurde dort aber bald wieder seelsorglich tätig - und missbrauchte erneut Kinder. 1986 verurteilte ihn ein staatliches Gericht. Ab 1987 setzte ihn das Erzbistum an anderer Stelle ein. Und wieder wurde er zum Täter, was erst 2020 öffentlich wurde. Peter H. lebt heute in seinem Heimatbistum Essen. Insgesamt soll er mindestens 28 Minderjährige sexuell missbraucht haben.
"Verschiebebahnhof" von Täter-Priestern
Das Beispiel des Pfarrers H. wirft auch ein Licht auf den Umgang mancher, wohl nicht weniger deutscher Bischöfe der vergangenen Jahrzehnte mit Täter-Priestern. Entweder kamen sie in ihrem Bistum woanders bald wieder zum Einsatz. Oder sie wurden kurzerhand an andere Diözesen überstellt. Ein Kirchenrechtler spricht von einem regelrechten "Verschiebebahnhof", der über viele Jahre funktioniert habe.
In dem Gutachten, das an diesem Donnerstag vorgelegt wird, soll es auch darum gehen, wer dafür verantwortlich ist, dass der aus Essen kommende Priester-Täter in bayerischen Gemeinden wieder zum Gemeindeseelsorger wurde. Von dessen krimineller Seite niemand in den Pfarreien wusste.
Weil es dabei eben auch um die Zuständigkeit und mögliche Verantwortung von Kardinal Ratzinger, des späteren Papstes Benedikt XVI. (2005-2013) geht, werden dieser Termin und die neue Studie nicht nur von deutschen Journalistinnen und Journalisten oder auch aus Rom gespannt beäugt. Ganz gleich, was zu Ratzinger erklärt werden wird: vermutlich in Dutzenden von Sprachen wird darüber berichtet werden.
Ratzinger selbst, hieß es in der vorigen Woche, habe der untersuchenden Kanzlei "Westpfahl Spilker Wastl" 82 Seiten eigener Erklärung zur Verfügung gestellt. Es geht um Aufklärung, um Ruf und Nachruf sowie Nachruhm.
Betroffene von sexualisierter Gewalt schauen mit gemischten Gefühlen auf die neue Studie. Der Sprecher der Betroffenen-Gruppe "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, spricht gegenüber der Deutschen Welle mit Blick auf die Aufarbeitung von einer "unendlichen Geschichte". Weil die Bischöfe "die Kontrolle nicht aus der Hand geben wollen", gebe es Studien "durch von ihnen selbst beauftragte Anwaltskanzleien".
Auch die Münchner Studie sei eine solche "Auftragsarbeit". Dennoch sei er "gespannt, ob wir Hinweise auf weitere Tatorte, Täter und Verantwortliche gibt - über den Fall H. und das Scheitern der drei Kardinäle Ratzinger, Wetter und Marx im Umgang mit diesem Täter."
Vor allem aber, sagt Katsch, sei er gespannt darauf, "wann der Bayerische Landtag oder der Deutsche Bundestag endlich einsehen, dass die Kirche mit der Aufarbeitung nicht alleine gelassen werden darf".