Der Notfallplan Gas und die deutsche Industrie
30. März 2022"Wir müssen uns auf ein drastisches Szenario vorbereiten, wenn wir von der russischen Gasversorgung abgeklemmt werden." Der Vorstandschef des Energie-Riesen Evonik, Christian Kullmann, klingt besorgt, als er vom Westdeutschen Rundfunk zum Notfallplan Gas interviewt wird.
Noch fließt das Gas, doch die Vorsorgeplanungen laufen auf Hochtouren. Was kann man tun, wenn kein Gas mehr aus Russland kommt? Die Sorgen werden nun noch verstärkt von einer spontan einberufenen Pressekonferenz von Wirtschaftsminister Habeck am frühen Mittwochmorgen.
Von der Frühwarnstufe zur Alarmstufe
Dort hatte Habeck angekündigt, die erste Warnstufe für den Notfallplan Gas zu aktivieren. Hintergrund ist die Forderung von Russland, Gas nur noch gegen Rubel zu liefern. Deutschland und auch die anderen G7-Staaten lehnen das ab.
Der Notfallplan Gas regelt das Vorgehen in Deutschland, wenn die Versorgungslage massiv zu verschlechtern droht - oder wenn dies bereits der Fall ist. Insgesamt gibt es drei Stufen. Die drei Stufen sind die Frühwarnstufe, die Alarmstufe und die Notfallstufe. Bei der Frühwarnstufe sollen die Versorger Vorbereitungen treffen. Die Versorgungssicherheit sei aktuell noch garantiert, wie Wirtschaftsminister Habeck betonte. In den Netzen werden Puffer geprüft, verfügbare Transportkapazitäten sollen maximal genutzt werden. Die Zusammenarbeit mit Netzbetreibern im benachbarten Ausland soll intensiviert werden.
Die Bundesnetzagentur ist nun damit beauftragt, Kriterien zu entwickeln, welche Industrien und Sektoren weiterhin mit Gas auch im Rahmen einer sogenannten Gasmangellage versorgt werden.
Es folgt die Alarmstufe. Laut Plan liegt in diesem Fall eine Störung der Gasversorgung oder eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas vor, die zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage führt - der Markt aber noch in der Lage ist, diese Störung oder Nachfrage zu bewältigen.
Auf die Alarmstufe folgt die Notfallstufe: Es liegt dann eine "außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas, eine erhebliche Störung der Gasversorgung oder eine andere beträchtliche Verschlechterung der Versorgungslage vor", so beschreibt das Bundesministerium für Wirtschaft und Klima auf insgesamt 37 Seiten die Szenarien.
An dieser Stelle haben Maßnahmen des Markts nicht ausgereicht, um die noch verbleibende Gasnachfrage zu decken. Die Folge des Notfalls ist, dass der Staat einschreiten muss - um insbesondere die Gasversorgung der "geschützten Kunden" sicherzustellen - also etwa von privaten Haushalten. Die Bundesnetzagentur wird nun dem Wirtschaftsministerium zufolge zum "Bundeslastverteiler". Sie regelt dann in Abstimmung mit den Netzbetreibern die Verteilung von Gas und könnte dann auch die Abschaltung von Industriekunden anordnen und die Endverbraucher auffordern, weniger Erdgas zu nutzen.
Wer wird wann abgeschaltet?
Private Haushalte, aber auch Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die Feuerwehr und die Polizei sind in der dritten und höchsten Stufe, dem Notfall, besonders geschützt. Das bedeutet, ihre Versorgung soll sichergestellt werden, auch durch Eingriffe des Staates in den Markt. Die Industrie hingegen könnte per Dekret abgeschaltet werden. Doch wo soll man anfangen?
Die Industrie wird wohl zuerst getroffen. Hier liegt viel Sparpotenzial: So benötigt sie rund ein Viertel des gesamten Gasbedarfs in Deutschland. Die Konzerne haben bereits vor den Folgen gewarnt. Ein unmittelbarer Importstopp von russischem Gas würde nicht nur zu Produktionsstillständen in der Stahlindustrie führen, sondern auch zu einem Einbruch der Industrieproduktion in Deutschland und der EU, sagt der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Hans Jürgen Kerkhoff.
Ähnlich äußerte sich auch Evonik-Chef Christian Kullmann, der auch Präsident der Chemischen Industrie (VCI) ist. Man müsse aber beachten, dass die deutsche Industrie "wie ein menschlicher Körper" funktioniere. "Und die Energie ist das Herz-Kreislaufsystem dieses Körpers. Wenn Sie die Versorgung unterbrechen, dann kann ein solcher Mechanismus nicht überleben", so Kullmann.
Alle Augen auf das Krisenteam
Alles ist miteinander verbunden. Dieses Dilemma zeigt sich gut anhand der chemischen Industrie. Hier läuft ohne Öl und Gas fast gar nichts. Die Branche ist extrem energieintensiv und besonders wichtig für viele Vorprodukte. "Etwa 95 Prozent aller Industrieerzeugnisse benötigen heute in Deutschland in ihrem Entstehungsprozess Chemieprodukte", heißt es auf der Webseite des Branchenverbandes VCI. Müsste die Chemie die Produktion stoppen, dann gäbe es für die Autoindustrie keine Lacke mehr, für die Bauindustrie keine Dämmstoffe und den Medikamenten fehlten die Verpackungen, so Kullmann.
Bei einem Gasstopp würden Lieferketten brachial unterbrochen. Deshalb hat auch Michael Vassiliadis, Chef der Chemiegewerkschaft IG BCE, hatte bereits am Montag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für den Fall eines abrupten Stopps der Gasimporte vor dem Verlust von "Hunderttausenden Arbeitsplätzen" und einer Beeinträchtigung der Versorgung gewarnt. Der Chemiekonzern BASF erklärte gar, er müsse seinen Standort in Ludwigshafen stilllegen, sollten sich Gaslieferungen mehr als halbieren.
Mit Ausrufung der Frühwarnstufe tritt nun ein Krisenteam zusammen. Die Blicke der Industrie werden wohl genau verfolgen, was dort erarbeitet wird. Denn wer, wann und wie in einem Notfall vom Gasnetz genommen wird, kann für die einzelnen Branchen existenzielle Folgen haben. Doch wohl allen ist klar: Sollte der Notfall eintreten, wird in der Industrie direkt oder indirekt betroffen sein. Anzumerken ist, dass der Anteil an russischem Erdgas von zuletzt 55 auf mittlerweile 40 Prozent reduziert werden konnte. Will heißen: Immerhin 60 Prozent des benötigten Gases werden weiterhin fließen.