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Der Osten fällt wieder zurück

Marcel Fürstenau26. September 2012

Auch 22 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland von einer Angleichung seiner Lebensverhältnisse weit entfernt. Im aktuellen Bericht der Bundesregierung deutet sich sogar an, dass die Kluft wieder größer wird.

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Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) wirkt unentschlossen. (Foto: Axel Schmidt / dapd)
Bild: dapd

"Wir halten an der Zielsetzung fest, die Lebensverhältnisse in Deutschland bis 2019 bundesweit weitgehend anzugleichen. (…) Die Steigerung der Wirtschaftskraft und die Reduzierung der Arbeitslosigkeit bleiben die zentralen Ziele." Diese Sätze stammen aus dem Koalitionsvertrag, den Konservative (CDU/CSU) und Liberale (FDP) 2009 geschlossen haben. Gemessen an ihren eigenen Ansprüchen kann die Bundesregierung unter Führung der ostdeutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Entwicklung nur bedingt zufrieden sein. Denn im aktuellen Bericht zum Stand der Deutschen Einheit, den Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (Artikelbild) in Berlin vorgelegt hat, findet sich etwas Licht, aber auch reichlich Schatten.

Arbeitslosigkeit sinkt weiter

Bemerkenswert ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt: Trotz eines im globalen Maßstab wirtschaftlich schwierigen Umfelds ist die Zahl der Erwerbslosen in Ostdeutschland im Jahresdurchschnitt 2011 mit 11,3 Prozent auf den niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung 1990 gesunken. "Zugleich nahmen Erwerbstätigkeit und insbesondere die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung weiter zu", vermerken die Autoren des Berichts. Allerdings ist die Quote weiterhin fast doppelt so hoch wie im Westen (6,0 Prozent).

Verschlechtert hat sich die Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner entsprach nur noch 71 Prozent des durchschnittlichen Leistungsvermögens in den alten Bundesländern. Ein Jahr zuvor waren es noch 73 Prozent. Passend dazu steht in dem Bericht, es bleibe "noch ein Stück Weg zu gehen, um die wirtschaftlichen Unterschiede in Deutschland entlang der ehemaligen Trennungslinie zu überbrücken". Wie schwierig das weiterhin bleiben dürfte, belegt eine andere wichtige Kennziffer: das Wirtschaftswachstum. In Ostdeutschland einschließlich Berlin lag es 2011 bei 2,5 Prozent und damit noch immer unter dem Schnitt im Westen (3,1 Prozent).

Regierung verabschiedet sich von Rentenangleichung

Große Unterschiede gibt es weiterhin auch bei den Einkommen und damit auch bei den Renten, deren Höhe unter anderem von der Entwicklung der Löhne und Gehälter abhängt. Weil Ostdeutsche im Schnitt lediglich 83 Prozent eines vergleichbaren West-Einkommens erzielen, wirkt sich das entsprechend auf die gesetzlichen Alterseinkünfte aus. Von ihrem im Koalitionsvertrag vereinbarten Ziel, bis 2013 ein einheitliches Rentensystem in Deutschland einzuführen, hat sich die Regierung offenbar verabschiedet. Darauf lassen Äußerungen des Ostbeauftragten in Merkels Kabinett, Christoph Bergner, schließen. Der Christdemokrat sagte der "Mitteldeutschen Zeitung", er plädiere für eine Rentenangleichung, "die mit der Lohnangleichung parallel geht".

Das empört die Linke ebenso wie der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit: Als "Eingeständnis des Scheiterns der Ostdeutschlandpolitik der Bundesregierung" bezeichnete Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi die aktuelle Bestandaufnahme. Seine Partei werde die Rentenpolitik zum Thema für die Bundestagswahl 2013 machen, kündigte er in Berlin an. 22 Jahre nach der Wiedervereinigung gehe es um Gerechtigkeit bei den Löhnen und den Renten, um die "Anerkennung der Arbeits- und Lebensleistungen der Ostdeutschen", sagte Gysi.

Weniger Geld aus dem Solidarpakt und von der EU

Wie ambitioniert das Ziel gleicher Lebensverhältnisse ist, verdeutlichen auch die Zahlen aus dem Solidarpakt II der Bundesregierung. Aus diesem Geldtopf erhält der Osten Deutschlands von 2005 bis 2019 rund 105 Milliarden Euro. Die jährlichen Raten sinken kontinuierlich. 2011 waren es noch acht Milliarden, im letzten Jahr der Zuweisungen werden es nur noch gut zwei Milliarden sein. Und weniger Geld für die neuen Bundesländer dürfte es kurzfristig auch von der Europäischen Union (EU) geben. Wegen der im Vergleich zu anderen EU-Ländern positiven Wirtschaftsentwicklung wird Ostdeutschland 2014 aus der höchsten Förderstufe des EU-Strukturfonds fallen. In der bis Ende des kommenden Jahres laufenden Förderperiode stehen 16 Milliarden Euro zur Verfügung.

2020 greift die Schuldenbremse

Vor diesem Hintergrund stellt sich mancher Politiker schon jetzt die Frage, wie es mit dem Osten finanziell weitergehen soll, wenn 2020 auch noch die sogenannte Schuldenbremse wirksam wird? Sie ist verfassungsrechtlich verankert und verpflichtet alle Bundesländer, von diesem Zeitpunkt an ihre Haushalte grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Gemessen an der aktuellen finanziellen Leistungsfähigkeit scheint diese Vorgabe für die 1990 der Bundesrepublik Deutschland beigetretenen Länder kaum erfüllbar zu sein. Denn ohne Solidarpakt, Länderfinanzausgleich und EU-Mittel hätte sich der Osten in diesem Jahr nur zu rund einem Drittel selbst finanzieren können.