Prager Frühling - eine Verschwörung?
15. Dezember 2008Es gab ein ungeschriebenes Gesetz in der jüdischen Gemeinde von Prag, das zu sozialistischen Zeiten lebenswichtig gewesen ist: die Geheimniskrämerei. "Jeder hatte einen Kreis von Leuten, mit denen er offen sprechen konnte", sagt Jiri Danicek, der Gemeindemitglied und späterer Dissident war. "Und dann gab es die anderen, vor denen man lieber nicht so ehrlich geredet hatte. Über die wusste auch jeder, dass diese Offenheit nicht empfehlenswert gewesen wäre."
Im Fadenkreuz des Geheimdienstes
Die jüdischen Gemeinden standen während der kommunistischen Herrschaft besonders im Fadenkreuz der tschechoslowakischen Staatssicherheitsbehörde. In fast allen jüdischen Einrichtungen hatte sie ihre Zuträger. Das waren so viele, dass gerade die jüdischen Gemeinden heute als Lektion dafür dienen können, wie die Geheimpolizei aus dem Verborgenen heraus agierte, wie sie ihre Macht ausspielte und Menschen gezielt brechen konnte.
Jiri Danicek, der junge Mann von früher, ist heute Vorsitzender der Föderation der jüdischen Gemeinden in Tschechien, einer Art Zentralrat. Was er damals erlebt hatte, gehörte zum System der Staatssicherheit: Auf dem Papier gab es zwar die Religionsfreiheit, aber im täglichen Leben wurden die Gemeindemitglieder gemieden und gesellschaftlich isoliert.
Von Seiten der kommunistischen Machthaber steckte dahinter eiskaltes Kalkül. "Zumindest im Unterbewusstsein hat das eine Rolle gespielt, was schon vorher für den Antisemitismus ausschlaggebend war: die Vorstellung, dass die Juden versuchten, alle führenden Positionen zu besetzen und dann mit dunklen Netzwerken die Gesellschaft in ihrem eigenen Sinne zu beeinflussen", sagt Ondrej Koutek.
Legende der "jüdischen Gefahr"
Er arbeitet im Prager Innenministerium und hat jahrelang in den Archiven recherchiert. Die Staatssicherheit, sagt Ondrej Koutek, habe sich eine jüdische Verschwörung eingebildet. Gezielt unterwanderte sie deshalb sämtliche jüdischen Einrichtungen.
Erklärtes Ziel war eine lückenlose Aufstellung mit den Namen aller tschechoslowakischen Juden, mit ihren Berufen und ihren privaten Kontakten. Dieses Vorhaben war selbst für die Verhältnisse der sozialistischen Staatssicherheit beispiellos.
"Die haben systematisch Juden in der Oppositionsbewegung gesucht und natürlich auch einige gefunden", sagt Ondrej Koutek. "Damit haben sie für sich selbst erst die Legende von der jüdischen Gefahr geschaffen. Das ging soweit, dass es sogar eine Lesart des Prager Frühlings gibt, nach der die Ereignisse der gesellschaftlichen Liberalisierung das Ergebnis einer zionistischen Verschwörung gewesen sein sollen."
Juden leiden auf breiter Front
Mit den darauf folgenden Repressalien hat die Staatssicherheit das jüdische Leben im Land so gut wie unterbunden. Kein Gremium in einer jüdischen Einrichtung, erinnert sich ein Zeitzeuge, habe unabhängig arbeiten können, alle seien unterwandert gewesen von Spitzeln und Zuträgern.
Das ganze Ausmaß der Situation zeigt sich erst jetzt allmählich: In diesem Jahr hat in Tschechien das Institut zur Untersuchung der totalitären Regime seine Arbeit aufgenommen, ein Pendant zur deutschen Birthler-Behörde.
Nach der politischen Wende standen die Gemeinden in der damaligen Tschechoslowakei wegen der Aktivitäten der Staatssicherheit vor ihrer größten Herausforderung: Wer sollte den Vorsitz übernehmen, wer war überhaupt noch unbelastet? "Von jedem, der damals für ein Vorstandsamt kandidiert hat, wurde eine Erklärung gefordert, dass er zumindest nicht bewusst kooperiert hatte", sagt Frantisek Banyai, der seit gut vier Jahren der Prager Gemeinde vorsteht.
Unlösbarer Balanceakt
Ein Verfahren, das nicht ganz unumstritten war: "Ich erinnere mich an einen Fall, in dem jemand zur Unterschrift unter seine Kollaborationserklärung gezwungen worden ist - und solange ich ihn kenne, hat er jedem geholfen, der seine Unterstützung brauchte. Und dann gab es solche, die nie irgendetwas unterschrieben hatten, aber vor lauter Fanatismus überall Schaden angerichtet haben, wo sie nur konnten", so Banyai.
Nur wegen einer belastenden Unterschrift allein sei es deshalb schwer, über jemanden ein moralisches Urteil zu fällen. Die Welt sei eben auch im Kommunismus nicht schwarz-weiß gewesen, sagt Frantisek Banyai. Genau das macht den Umgang mit der Vergangenheit bis heute zu einem kaum lösbaren Balanceakt für die jüdischen Gemeinden.