Der Rassismus von Christchurch ist überall
20. März 2019"Der große Austausch". Das ist der Titel von Brenton Tarrants Manifest, das der Attentäter kurz vor seiner Bluttat ins Netz gestellt hat. Ob er es selbst geschrieben hat, ist ebenso unklar wie die Frage, ob er wirklich ohne den Auftrag einer Organisation gehandelt hat.
In jedem Fall gibt es in rechtsextremen Kreisen westlicher Länder ein weltanschauliches Umfeld, in dem der "große Austausch" als Thema sofort verstanden wird. Gemeint ist damit, dass die weiße Bevölkerung in Europa durch Zuwanderung von Menschen mit anderer Hautfarbe und deren höherer Geburtenrate "nach und nach ersetzt" wird.
In der deutschen rechtsradikalen Szene ist in diesem Zusammenhang meist von "Volksaustausch" oder "Umvolkung" die Rede. Den Ausdruck "Umvolkung" haben etwa der AfD-Bundestagsabgeordnete Tino Chrupalla oder die frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla verwendet. Ein Buch des wegen Volksverhetzung verurteilten deutsch-türkischen Autors Akif Pirinçci von 2016 trägt sogar den Titel "Umvolkung. Wie die Deutschen still und leise ausgetauscht werden". Das Buch "Deutschland schafft sich ab" des Publizisten und SPD-Mitglieds Thilo Sarrazin geht in eine ähnliche Richtung.
Schlüsselwort Vielfalt
Von allen rechten und rechtsextremen Gruppen und Parteien kommt Tarrant möglicherweise der Identitären Bewegung (IB) ideologisch am nächsten. Auch bei der IB steht das Schlagwort vom "großen Austausch" im Mittelpunkt. Tarrant und die IB vertreten als Gegenentwurf das, was oft Ethnopluralismus genannt wird.
Tarrant selbst spricht allerdings von "Rassen", bezeichnet sich selbst sogar freimütig als "Rassisten". Er sagt, er "habe nichts gegen andere Völker und Rassen, solange sie in ihren Herkunftsländern" blieben. Der Anschlag von Christchurch sei "kein Anschlag auf die Vielfalt, sondern einer im Namen der Vielfalt. Um dafür zu sorgen, dass die Völker verschieden, getrennt, einzigartig, unverwässert bleiben". "Vielfalt" ist auch bei den Identitären ein Schlüsselwort.
Die IB ist besonders in den sozialen Netzwerken aktiv und versucht, zunächst mit harmlos wirkenden Inhalten Jugendliche zu ködern. "Ihr Ziel ist es, sich als eine Gruppierung darzustellen, die man gut finden kann, ohne Gefahr zu laufen, als Neonazi zu gelten", sagte Anna-Lena Herkenhoff von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Oktober in einem DW-Interview. In einem Bericht des Zentrums "Jugendschutz.net" von Bund und Ländern heißt es: "Rechtsextremismus soll als normaler Alltag dargestellt werden". So werde besonders bei Instagram ein "alternativer Lifestyle" präsentiert, vordergründig gehe es um beliebte Themen wie Reisen, Natur oder Großstadtleben.
Die Gewaltfrage
Der große Unterschied zwischen Tarrants Hetzschrift und den offiziellen Erklärungen der Identitären ist die Gewaltfrage, allerdings wohl nur vordergründig. Tarrant ruft alle Gleichgesinnten offen zur Gewalt auf. "Tarrants Ziel ist es, einen Bürgerkrieg anzustacheln", meint Rechtsextremismusforscher Matthias Quent. "Es geht ihm darum, gesellschaftliche Spannungen so hochzutreiben, dass es einen Krieg gegen die Demokratie, gegen die offene Gesellschaft und insbesondere gegen Menschen aus Einwandererfamilien gibt. Das ist das Ziel, das nicht nur er, sondern viele Rechtsextremisten auf der ganzen Welt verfolgen."
Weil die Identitären wissen, dass solche Gewaltaufrufe ein sofortiges Verbot nach sich ziehen würden, gehört es zu ihrer Kommunikationsstrategie, ein vermeintlich homogenes "Volk" aufzufordern, "Widerstand zu leisten". Worin der Widerstand bestehen könnte, lassen sie bewusst offen. Doch der Schritt zur Gewalt dürfte klein sein. Verbal bereiten die Identitären jedenfalls ebenso wie einige AfD-Politiker den Boden dafür, dass sich manche berufen fühlen, Gewalt gegen vermeintlich Fremde und "Kulturverräter" in den eigenen Reihen anzuwenden.
Eine aufsehenerregende Aktion der Identitären Bewegung in Deutschland war zum Beispiel 2016 eine kurzzeitige Besetzung des Brandenburger Tors, wo sie ein Plakat mit der Aufschrift "Sichere Grenzen – sichere Zukunft" entrollten. 2017 charterten Ihre Anhänger ein Schiff, das die Arbeit von Hilfsorganisationen stören und Migranten daran hindern sollte, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.
Kann Umweltschutz "rechts" sein?
In einem Punkt erinnert das von Tarrant ins Netz gestellte Manifest an eine andere rechtsextreme und spezifisch deutsche Gruppe, die sogenannten Reichsbürger. So wie die Reichsbürger dem bestehenden deutschen Staat ihre Treue aufkündigen und sich oft weigern, Steuern zu zahlen, ruft auch Tarrant dazu auf: "Bis unsere Nationen von Männern und Frauen regiert werden, die unsere Sache vertreten, sollten Steuern als Diebstahl betrachtet werden. Weigert Euch, Steuern zu zahlen."
Ganz am Anfang des Manifests stehen in einer sogenannten schwarzen Sonne, einem internationalen rechtsextremen Erkennungszeichen, positiv besetzte Stichworte und Bilder wie "Umweltschutz", "Recht und Ordnung", "Schutz von Erbe und Kultur" oder "Arbeiterrechte". Aus dem Zusammenhang gerissen, dürften sich viele Menschen davon angesprochen fühlen. Dieselbe Taktik betreiben die meisten rechtsextremen und rechtspopulistischen Gruppen auch in Deutschland. Doch sofort wird klar: Es geht hier nur um die Rechte und das Wohlergehen der weißen Bevölkerung. Alle anderen haben nach Lesart der Identitären nicht nur keine Rechte, sie müssten sogar verschwinden, zur Not mit Gewalt.