Erdogans Wiederwahl hängt an Damaskus und Moskau
13. Januar 2023Kaum ein Tag vergeht, ohne dass die türkischen Medien aktuelle Umfrageergebnisse zum erwarteten Wahlverhalten veröffentlichen. Die Regierung ziert sich noch, den genauen Wahltermin bekanntzugeben, und aus taktischen Gründen hält die Opposition den Namen des gemeinsamen Gegenkandidaten zurück. Unterdessen lösen die Erhebungen der Demoskopen im Regierungslager alles andere als Freudenstürme aus. Der seit zwanzig Jahren regierende Recep Tayyip Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand, Szenarien über eine mögliche Wahlniederlage machen die Runde.
Mit einer Vielzahl von Initiativen stemmen sich der Präsident und seine Regierung gegen den Trend. Dieser politische Aktivismus ist nicht ungewöhnlich im Vorfeld von wichtigen Wahlen. Dabei geht es nicht nur um die Wirtschaftspolitik, die angesichts der krisenhaften Entwicklungen der vergangenen Jahre im Mittelpunkt des Wahlkampfs steht.
Auch die Außenpolitik nimmt im Ringen um die Wählergunst einen wichtigen Stellenwert ein: Präsident Erdogan versteht es meisterhaft, die Außenpolitik für innenpolitische Zwecke zu instrumentalisieren. Neben den öffentlichkeitswirksam inszenierten Auftritten auf der Bühne der internationalen Diplomatie, so etwa als Vermittler zwischen den Kriegsparteien in der Ukraine, rückt seit einigen Wochen zunehmend die Syrien-Politik in das Blickfeld.
Kehrtwende in der Syrienpolitik
Es ist nicht das erste Mal, dass der türkische Machthaber aus innenpolitischen Überlegungen Initiativen gegenüber dem arabischen Nachbarland ergreift. "Syrien hat einen einzigartigen Platz in Erdogans politischer Überlebensstrategie", schreibt Gönül Tol in einem kürzlich erschienenen Buch mit dem Titel "Erdogans Krieg. Der Kampf eines Machtmenschen im Inland und in Syrien", in dem die Autorin auf 300 Seiten erklärt, wie Erdogans Syrien-Politik entscheidend von seinen innenpolitischen Interessen bestimmt wird.
Seit einigen Wochen mehren sich die Hinweise auf eine nur als radikal zu bezeichnende Kehrtwende der türkischen Haltung gegenüber dem Regime in Damaskus. Anfang des Jahres hat Präsident Erdogan ein weiteres Mal - und deutlicher als zuvor - von der Möglichkeit eines direkten Treffens mit dem syrischen Diktator Baschar al Assad gesprochen. Ein türkisch-syrisches Gipfeltreffen wäre der Höhepunkt eines seit Monaten hinter den Kulissen von Moskau betriebenen Prozesses, an dessen Ende die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Ankara und Damaskus stehen soll.
Offenkundig ist dieser Vorgang weit fortgeschritten: Kurz vor der Jahreswende fand in der russischen Hauptstadt ein Treffen der Verteidigungsminister der Türkei, Syriens und Russlands statt. Nun gab der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu bekannt, dass im Februar ein Treffen der drei Außenminister folgen soll, bei dem die Grundlagen für den angestrebten Gipfel zwischen Assad und Erdogan abgesteckt werden sollen.
Putin an der Seite Assads
Die diplomatische Dramatik eines Tête-à-Tête auf höchster Ebene wäre erheblich. Im Zuge des seit über zehn Jahren wütenden syrischen Krieges kam es zu einer kompletten Zerrüttung des türkisch-syrischen Verhältnisses. Auf Betreiben von Erdogan wurde die Türkei zum wichtigsten Unterstützer der Opposition, zeitweilig zum wichtigsten Aufmarschgebiet der bewaffneten Assad-Gegner. Auf der anderen Seite war und bleibt Putins Russland die wichtigste Stütze Assads. Schon dieser Umstand mag das besondere Interesse Moskaus an einem syrisch-türkischen Ausgleich erklären.
Ein Gipfeltreffen zwischen Assad und Erdogan wäre ein politischer Triumph für Wladimir Putin - und eine Niederlage für die Amerikaner.
Washington, das in Syrien sehr zum Unmut der Türkei im Schulterschluss mit kurdischen Milizen gegen den "Islamischen Staat" kämpft, hat keinen Hehl daraus gemacht, dass es eine Normalisierung der Beziehungen zum Assad-Regime ablehnt: "Wir unterstützen eine Normalisierung nicht", heißt es lapidar als Reaktion auf die aktuellen Entwicklungen im Handlungsdreieck Moskau - Ankara - Damaskus.
Bei Erdogan hat die amerikanische Ermahnung offenkundig wenig Eindruck gemacht: In der Syrien-Politik hört der türkische Präsident in diesen Tagen auf Putin und nicht auf Joe Biden, soviel ist sicher.
Tauschgeschäft der besonderen Art
Die politische Grundlage einer sich abzeichnenden türkisch-syrischen Vereinbarung ist laut Medienberichten ein Tauschgeschäft der besonderen Art: Im Gegenzug zu Ankaras Anerkennung Assads als Herrscher über Syrien und der Normalisierung der bilateralen Beziehungen auf allen Ebenen, verpflichte sich Damaskus, so heißt es, die kurdischen Strukturen im Norden Syriens zu zerschlagen und dafür zu sorgen, dass diese in künftigen Friedensverhandlungen keine Rolle spielen.
Für Erdogan, dessen Entscheidungen zunehmend von den demoskopischen Ergebnissen getrieben werden, wäre ein derartiger Deal mit dem syrischen Diktator möglicherweise der Schlüssel zum Erfolg an den Wahlurnen.
Umfragen zeigen, dass nach der Wirtschaftskrise die rund vier Millionen syrischen Kriegsflüchtlinge in der Türkei das wichtigste Thema für die Menschen sind. Von der anfänglichen "Willkommenskultur" ist in Anatolien wenig übriggeblieben, eine große Mehrheit der Türkinnen und Türken würde die Syrer lieber heute als morgen gehen sehen. Diese ablehnende Haltung hat eine Erhebung gerade erst wieder belegt. Die aktuelle Ausgabe des "Syrians Barometer", einer fortlaufenden Studie des Politikwissenschaftlers Murat Erdogan, die in regelmäßigen Abständen neueste Erkenntnisse zu den Syrern in der Türkei zusammenträgt, zeigt auch, dass rund 70 Prozent der Befragten mit der Syrer-Politik der Regierung unzufrieden sind. In der Frage der Migranten aus dem Nachbarland steht Erdogan mit dem Rücken zur Wand.
Ein politisches Abkommen mit Assad, dass die türkische Forderung nach Rückführung der Geflüchteten festschriebe, zudem ein Vertrag, der das Ende der Kurdenmilizen im syrischen Grenzgebiet besiegeln würde, käme so kurz vor den Wahlen einem politischen Himmelsgeschenk für Erdogan gleich.