Erdogans später Kampf gegen den IS
27. November 2015Festnahmen in Antalya, Razzien in Istanbul, Anti-Terror-Einsätze in Urfa, Bingöl und Gaziantep. Zurzeit vergeht kaum ein Tag, an dem die türkischen Behörden nicht einen weiteren Erfolg im Kampf gegen die Terrormiliz IS vermelden. Mehr als 3.000 ausländische Terror-Verdächtige sind seit Frühjahr 2014 an der Einreise gehindert oder ausgewiesen worden, heißt es aus dem Außenministerium. Allein in diesem Jahr habe man mehr als 1.000 mutmaßliche IS-Mitglieder festgenommen, mehrere tausend Kilogramm Chemikalien zum Bombenbau sowie dutzende Handgranaten und Schusswaffen beschlagnahmt.
Transitland für den Terror
Dass sein Land mithelfen will, den IS-Terror entschieden zu bekämpfen, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erst vor Kurzem beim G20-Gipfel in Antalya noch einmal bekräftigt. "Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Worte im Kampf gegen den Terrorismus nicht mehr ausreichen", sagte Erdogan. Ein wichtiges Bekenntnis, vor allem nach den Anschlägen von Paris, sagen Beobachter - aber es komme reichlich spät.
"Der IS hat die Zeit genutzt und in der Türkei bereits ein funktionierendes Netzwerk aufgebaut", sagt der frühere türkische Diplomat und Analyst Sinan Ülgen vom Istanbuler Thinktank EDAM. "Und zwar nicht nur im Südosten, sondern bis in die westlichen Großstädte Ankara und Istanbul". Der IS sei in der Lage, Anhänger in die Türkei hinein oder aus der Türkei heraus zu schleusen, warnt der Experte. Auf rund 20.000 wird die Zahl der ausländischen IS-Kämpfer in Syrien derzeit geschätzt, bis zu 1.000 sollen türkische Staatsbürger sein.
Auf dem IS-Auge blind?
Kritiker werfen Präsident Erdogan immer wieder vor, das Treiben der Terrormiliz viel zu lange weitgehend achselzuckend hingenommen, wenn nicht gar befeuert zu haben. "Ganz oben auf der Agenda der türkischen Regierung stand immer ein Regimewechsel in Syrien", sagt Sinan Ülgen. "Deshalb hat sie den IS, der ja als Assad-Gegner angetreten ist, lange als eine Art nützlichen Feind gesehen."
Rund 900 Kilometer lang ist die türkisch-syrische Grenze. Auch NATO-Partner forderten von Ankara immer wieder striktere Kontrollen, um zu verhindern, dass Kämpfer und Waffen in das Bürgerkriegsland gelangen. "Wir haben keine handfesten Beweise, dass die Türkei den IS direkt unterstützt hat, aber die laxe Grenzpolitik hat mit Sicherheit geholfen, die Islamisten zu stärken", sagt Aaron Stein, der in der Türkei und am Zentrum für Sicherheitspolitik in Genf (GCSP) über den Syrien-Krieg und den IS forscht.
Dazu kommt Erdogans grundlegendes Misstrauen gegenüber den kurdischen Kämpfern. Der Konflikt zwischen der türkischen Armee und der verbotenen Kurdenorganisation PKK prägt die Türkei seit Jahrzehnten. Und so kommt es, dass die meisten westlichen Verbündeten die Kurden in der Region als einziges ernstzunehmendes militärisches Gegengewicht zum IS unterstützen, während der türkische Präsident seine Luftwaffe Dutzende Angriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak fliegen lässt. "Die türkischen Behörden neigen dazu, eher gegen Anhänger der PKK als gegen Anhänger des IS vorzugehen", sagt Aaron Stein. Seiner Ansicht nach hat die Regierung in Ankara die Gefahr durch die Dschihadisten unterschätzt.
Angst vor weiteren Anschlägen
Die Türkei ist längst vom Transitland zur Zielscheibe für Terroristen geworden. Mehr als 100 Menschen starben, als sich in der Hauptstadt Ankara am 10. Oktober zwei Selbstmordattentäter auf einer Friedensdemonstration der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP in die Luft sprengten. Die Regierung macht den IS verantwortlich, ebenso wie für die Anschläge in Diyarbakir und Suruc im Sommer.
Seitdem beteiligt sich die türkische Armee an den US-geführten Luftangriffen auf IS-Stellungen in Syrien und Außenminister Feridun Sinirlioglu will die Militäreinsätze in der Grenzregion weiter verstärken - in enger Abstimmung mit den Amerikanern. "Wir werden es nicht länger dulden, dass der IS an unserer Grenze steht", sagte Sinirlioglu vor wenigen Tagen. Das Kalkül dabei: Sind die Dschihadisten erst vollständig aus der Region vertrieben, bricht auch ihr grenzübergreifendes Netzwerk zusammen. "Die türkische Regierung denkt um", konstatiert auch Sicherheitsexperte Sinan Ülgen. "Es gibt jetzt klare Bemühungen, gegen IS-Anhänger im Land vorzugehen und die Grenzen besser zu kontrollieren". Unter dem Strich aber bleibt der Analyst skeptisch: "Es wäre naiv zu glauben, dass die Türkei jetzt ohne Weiteres alle Aktivitäten des IS unterbinden könnte." Dazu müsse in Zukunft auch die Zusammenarbeit zwischen den türkischen und europäischen Geheimdiensten verbessert werden. Wie viel dabei noch tun bleibt, zeigen die Erfahrungen von Paris: Zwei Mal will der türkische Geheimdienst MIT Frankreich vor einem der Pariser Attentäter gewarnt haben, zuletzt im Juni 2015.