Debussys "Pelléas et Mélisande" eröffnet die Ruhrtriennale
19. August 2017In der Oper stirbt man ganz langsam. In der Oper "Pelléas et Mélisande" von Claude Debussy sogar einen ganzen Akt lang. Noch länger sogar: Die Aufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle, die am Freitagabend (18.8.2017) die Ruhrtriennale einläutete, begann um 19.30 Uhr und dauerte bis kurz vor Mitternacht, eine Pause inklusive - und über der Ganzem lag die Vorahnung des Todes.
Was hat das mit den utopischen Visionen im Motto der Ruhrtriennale zu tun? Auf den ersten Blick wenig, denn Debussys "Pelléas et Mélisande" bleibt mehrdeutig und wenig greifbar.
Rätselhafte Sprache, symbolträchtige Musik
Das liegt zum Teil an der rätselhaften Sprache des Textdichters, Schriftstellers, Dramatikers und Literaturnobelpreisträgers Maurice Maeterlinck (1862-1949). Debussy adaptierte das gleichnamige Schauspiel des Belgiers. Maeterlinck gilt als Vertreters des literarischen Symbolismus und sein Text ist voller Wortpassagen, die wie Sätze eines Menschen unter Hypnose wirken, etwa: "Es scheint, als wären meine Hände heute krank." Damit weist Mélisande, die Pelléas liebt, auf den ungeliebten Ring hin, der sie an ihren Ehemann Golaud kettet.
Die Geschichte von Liebe und Eifersucht spielt in einem Schloss namens "Allemonde": Maeterlincks grenzüberschreitende deutsch-französische Wortschöpfung deutet darauf hin, dass sich jeder in dieser Geschichte wiederfinden kann.
"Maeterlinck ist wie Sigmund Freud, allerdings Jahre vor ihm", sagt der Dirigent des Abends, Sylvain Cambreling, und fügt hinzu: "Was die Figuren nicht sagen, ergänzt die Musik." In "Pelléas et Mélisande" hat Claude Debussys Musik eine tiefenpsychologische Dimension. Subtile und dunkle Orchesterklänge überwiegen, oft hört man flirrende Klänge, die Naturgeräuschen nachempfunden sind - dann wieder braust das Orchester völlig unerwartet auf und unterstreicht damit das Seelendrama der Protagonisten.
Der verstorbene Komponist und Dirigent Pierre Boulez nannte dieses Schlüsselwerk der Operngeschichte "ein Theater der Angst und der Grausamkeit; es muss als solches interpretiert werden". So auch in der Inszenierung des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski.
Holzvertäfelte Musiksaal und glitzernde Bar
Das Seelendrama spielt im holzvertäfelten Musiksaal einer großbürgerlichen Familie. Das Orchester ist in einer Muschel ganz hinten auf der geräumigen Bühne platziert, manchmal hört die Familie wie beim Konzert zu. Als szenischer Bruch stehen vorne links eine glitzernde Bar und ein Waschbecken aus einer Industriehalle. Ein paar Statisten sind ständig im Bild: eine betrunkene Frau, ein Barmann, Penner.
Die zwei szenischen Perspektiven werden durch Videoprojektionen ergänzt: Einzelne Sänger-Schauspieler werden in Nahaufnahmen auf den großen Schirm hinter der Orchestermuschel projiziert, auf einem anderen Schirm über der Bar sieht man mal Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden, oder die Fluchtszene der Schulkinder vor angreifendem Federvieh aus Alfred Hitchcocks Film "Die Vögel". All das steigert die - meist verstörende - Wirkung von Musik, Wort und Gesang noch mehr.
An der Bar begegnet Golaud Mélisande und führt sie als seine Frau in seine Familie ein, wo sie sich später in seinen Halbbruder Pelléas verliebt. Das Unheil nimmt sein Lauf: Aus Eifersucht tötet Golaud Pelléas und verletzt Mélisande, die nach der Geburt ihres Kindes stirbt. Bei ihrem langen Abschied aus dem Leben kämpft man mit den Tränen. Die Zeit steht still, man wird vollends in die Geschichte hineingezogen.
Das liegt auch an den hervorragenden Schauspielleistungen von Barbara Hannigan als Mélisande, Phillip Addis als Pelléas, Leigh Melrose als Golaud und Franz-Josef Selig als Pelléas' Großvater Arkel. In der Inszenierung, die den riesigen Bühnenraum der Jahrhunderthalle voll ausnützt, ist - in einer Oper sonst nicht üblich - eine Mikrofonierung der Singstimmen nötig. Sie ist jedoch so subtil, dass man sie erst spät bemerkt.
Herta Müller hielt die Eröffnungsrede
1911 erhielt Maeterlinck den Nobelpreis für Literatur. 98 Jahre später ging die Ehre an die in Rumänien aufgewachsene deutsche Schriftstellerin Herta Müller - und in ihrer Rede zum Auftakt der Ruhrtriennale ging es - ähnlich wie in der Oper "Pelléas et Mélisande" - um den Umgang mit der Wahrheit. "Die Zensur wollte immer schon nicht nur Bücher und Bilder, nicht nur Kunst verbieten, sondern die Wahrnehmung der Welt, aus der heraus die Kunstwerke entstanden sind", sagte Müller über das rumänische Regime, vor dem sie 1987 floh.
Müller, die seitdem in der Bundesrepublik lebt, erzählte von ihrer Kindheit, von der Schönheit des Wildwuchses auf den Feldern, von ihrem rumänischen Dorf und vom späteren Leben in der Großstadt und der Angst von den Schikanen der Geheimpolizei.
"Ich hatte mehr Glück als viele andere und konnte die Diktatur verlassen. Aber sie hat mich nicht verlassen", sagte Müller. Die Deutungshoheit der Diktatur über die Wahrheit kontrastierte sie mit ihrer eigenen Erfahrung, "dass versteckte Schönheit noch schöner sein kann als auffallende, weil das Schöne, wenn man es an der Pflanze entdeckt, plötzlich in einem selbst ist." Eine ähnliche Erfahrung konnte man durchaus auch beim Text von Maeterlinck und bei der Musik Debussys machen.
Breite Angebotspalette von der Oper bis zu Disco-Klängen
Die Eröffnungsvorstellung war eine von 28 Eigen- und Koproduktionen bei der Ruhrtriennale, die am 18. August begann und bis zum 30. September an 14 Spielstätten im Ruhrgebiet fortdauert. Rund 135 Veranstaltungen sind es insgesamt, die Palette reicht von alter Kirchenmusik über modernen Tanz und Schauspiel bis hin zu Disco-Klängen. Nicht alles wird so innig, so subtil sein wie bei der Eröffnung, sagte Intendant Johan Simons: "Vielleicht können wir unserem Publikum mit künstlerischen Götterfunken ein paar Hoffnungsschimmer schenken."