Der Terror kommt nach Indien
13. Juli 2006Nach den Bombenanschlägen auf Nahverkehrszüge in der indischen Millionenmetropole Bombay läuft die Suche nach den Motiven und Drahtziehern auf Hochtouren. Einzelne Behördenvertreter und Analysten in Indien halten muslimische Extremistengruppen für verantwortlich, die für die Unabhängigkeit der Region Kaschmir von Indien kämpfen.
Im Gegensatz zu bisherigen Anschlägen in Indien gibt es bislang jedoch keine offiziellen Schuldzuweisungen an das Nachbarland Pakistan, mit dem sich Indien um die zwischen beiden Staaten geteilte Provinz Kaschmir streitet. Auch hat die pakistanische Regierung die Anschläge unmittelbar als "abscheulichen Akt des Terrors" bezeichnet. Beide Länder halten daran fest, ihre Beziehungen weiter zu verbessern.
Vor dem Hintergrund des zunehmend besseren Klimas zwischen den Regierungen in Neu Delhi und Islamabad sei es denkbar, dass Extremisten aus der geteilten Provinz versuchten, das Thema Kaschmir verstärkt ins öffentliche Rampenlicht zu stellen, sagt Peter Lehr vom Forschungszentrum für Terrorismus und politische Gewalt der Universität St. Andrews in Schottland. "Es gibt in der Provinz viele Personen, die mit der Annäherung zwischen beiden Ländern nicht einverstanden sind." Unter Verdacht stehen insbesondere Gruppen wie Lashkar-e-Taiba (LeT), Hizb-ul-Mujahedeen - die die Anschläge aber bereits verurteilt haben - und Jaish-e-Mohammad. Möglicherweise hätten die Drahtzieher aber auch versucht, eine neue Welle der Gewalt zwischen Hindus und Moslems in Indien zu provozieren. "In beiden Fällen sind sie eindeutig gescheitert", so Lehr, denn: "Unter den Opfern sind sowohl viele Hindus als auch Moslems." Die Überlebenden hätten bei ihrer gegenseitigen Hilfsbereitschaft keine Rücksicht auf Religionszugehörigkeiten genommen. Berichten zufolge sind viele der Opfer auch in Moscheen versorgt worden. In Krankenhäusern spenden Hindus und Muslime gemeinsam Blut.
Art des Sprengstoffs gibt Hinweise auf Täter
Nach ersten Ermittlungen sollen die Bomben auch Plastiksprengstoff enthalten haben. Der besondere Sprengstofftyp ist offenbar auch schon bei den Bombenanschlägen in Bombay 1993 benutzt worden. Für jene Anschläge wurde der Unterweltboss Dawood Ibrahim und seine in Bombay operierende "D-Company" verantwortlich gemacht. "Das macht ihn auch zu einem möglichen Drahtzieher für die neuen Terroranschläge", sagt Peter Lehr. Ausmaß und zeitliche Abstimmung der Explosionen deuteten auf eine umfassende und komplexe Planung der Anschläge. Dies weise auf einen weiteren potentiellen Urheber hin. "Der pakistanische Geheimdienst ISI hat die Mittel für eine solche Planung. Für die Ausführung könnte er sich dann sowohl muslimischer Extremisten als auch des organisierten Verbrechens in Bombay bedient haben", so Lehr.
Auch Pal Sidhu vom Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik hält muslimische Extremistengruppen für mögliche Täter. Im Mai 2006 wurden Mitglieder der verbotenen "Islamischen Studentenbewegung Indiens" (SIMI) bei dem Versuch festgenommen, eine große Menge Plastiksprengstoff vom Bundestaat Maharashtra nach Gujarat zu transportieren - an der Westküste Maharashtras liegt Bombay. Mitglieder von SIMI, die auch in mehreren anderen Terrorgruppen wieder aufgetaucht sind, seien damit möglicherweise in die Planung der Anschläge vom Dienstag (11.7.2006) involviert gewesen, sagt Sidhu.
Terror mit "völlig neuer Dimension"
"Doch in mehrerer Hinsicht weisen die Anschläge auf die Züge in Bombay eine völlig neue Dimension auf", so Sidhu weiter. Bisherige Anschläge seien entweder häufig in einem lokalen Kontext angesiedelt gewesen - so wie in Kaschmir. Oder sie seien als Antwort auf unmittelbar vorhergehende Ereignisse interpretiert worden. So fanden die Explosionen 1993 in Bombay nur kurze Zeit nach der Zerstörung der Moschee in Ayodhya durch Hindu-Extremisten statt. "Bei den Explosionen vom Dienstag fehlt ein unmittelbarer Kontext oder Auslöser dieser Art", so Sidhu.
Damit scheint der globale Terror in Indien angekommen zu sein. Möglicherweise stammen die Täter auch diesmal aus bekannten islamistischen Gruppierungen, die bislang in einem begrenzten örtlichen und zeitlichen Kontext gehandelt haben. "Doch nun begreifen sie sich als Teil einer globalen Terror-Bewegung", sagt Pal Sidhu. Diese Gruppen, betrachteten ihren Kampf etwa in Kaschmir nicht mehr nur als eigenen Zweck, sondern als ein Schlachtfeld im globalen Kampf - ihre Mitglieder sind großenteils aus dem Ausland rekrutiert.
Obwohl eine Beteiligung muslimischer Extremisten gegenwärtig wahrscheinlich scheint, wird es Racheakte gegen Muslime in Indien nach Ansicht von Sidhu nicht geben. Die Pogrome der vergangenen Jahre haben den Angehörigen beider großer Religionsgruppen den hohen Preis der Gewalt bewusst gemacht. "Auch scheint es der gegenwärtigen Regierung in Neu Delhi - mit einem Sikh als Ministerpräsident und einem muslimischen Präsidenten - sehr am Herzen gelegen zu sein, Vergeltungsakte gegen Muslime unbedingt zu verhindern."