Der Vormarsch des Plastikgelds
12. August 2015In Deutschland hat noch immer das Bargeld die Oberhand. Der deutsche Durchschnittsbürger trägt 103 Euro cash in der Tasche bei sich und scheint ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber der Kartenzahlung zu besitzen. Laut einer Studie der Bundesbank wird mehr als die Hälfte der Summe, die in Deutschland für private Einkäufe ausgegeben wird, in bar bezahlt: 53 Prozent. Das ist eine hohe Zahl für die moderne deutsche Wirtschaft.
Der Anteil der bargeldlosen Transaktionen insgesamt liegt nur bei 79 Prozent. Und das, obwohl fast alle Deutschen eine EC-Karte haben, die die meisten Händler akzeptieren, im Gegensatz zu den Kreditkarten. "Karten waren lange Zeit für Händler das teuerste Zahlungsmittel, während Bar-Transaktionen sie fast gar nichts kosten", erklärt Ulrich Binnebößel vom Handelsverband Deutschland die bisherige Zurückhaltung von Laden- oder Restaurantbesitzern Kreditkarten zu akzeptieren. Ein Drittel der Befragten - weit mehr als in anderen westlichen Ländern - gab bei der Bundesbank-Studie sogar an, ausschließlich bar zu zahlen. Barzahlung ist besonders unter Rentnern verbreitet.
Sicherheit und Datenschutz sind wichtig
Reinhard ist Rentner und lebt in Hessen, seinen Nachnamen will er nicht nennen. Er sagt, dass er immer Bargeld bei sich trage und auch immer genau wisse, wie viel er bei sich habe. "Für mich ist es Zeitverschwendung in einem Geschäft anders als bar zu zahlen.“ Reinhard fürchtet, dass er erst auf seinem Kontoabzug feststellt, dass ihm bei einer Kartenzahlung zu viel abgebucht wurde. Außerdem ist er auf der Hut vor kriminellen Hackern, die es auf Karteninhaber abgesehen haben.
Sicherheit und Datenschutz haben hohe Priorität bei den Deutschen. Sie sind konservative Verbraucher mit einer starken Abneigung gegen Schulden. Sind das immer noch Nachwirkungen der Hyperinflation der 1920er Jahre - ein Trauma, das auch den Weg der Nationalsozialisten ebnete? "Die Verbraucher in Deutschland haben wenig Lust auf Experimente", sagt Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank Carl-Ludwig Thiele. "Aber wie die Menschen zahlen, verändert sich - Schritt für Schritt".
Der Wandel vollzieht sich
Für deutsche Verhältnisse ist geradezu revolutionär, dass die Discounter Lidl und Aldi seit Juli dieses Jahres die Kreditkarten Visa und MasterCard akzeptieren. Die Elektronikmarktketten Media Markt und Saturn hatten Ende Mai vorgelegt. Ab Herbst können deren Kunden auch an sogenannten Self-Checkout-Kassen durch das Scannen ihrer Karten oder Mobiltelefone zahlen. "Es ist heute nicht mehr richtig, von Deutschland als einem Land der Barzahler zu sprechen“, sagt Horst Rüter, Leiter des Forschungsbereichs Zahlungssysteme beim EHI Retail Institute in Köln. "Vielleicht brauchen die Deutschen nur ein wenig länger als andere, um von den Vorteilen der neuen Zahlungssysteme überzeugt zu werden".
Die im Internet-Zeitalter aufgewachsenen Käufer und Käuferinnen brauchen von einer Welt ohne Bargeld wohl am wenigsten überzeugt werden. Laut einer Umfrage des Digitalverbands Deutschlands Bitkom zahlen 20 Prozent der deutschen 14- bis 29-Jährigen bereits mit ihren Smartphones. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hält Münzen und Scheine im Angesicht der verfügbaren technischen Möglichkeiten für einen Anachronismus. Kürzlich empfahl er der Bundesregierung in einem Zeitungsinterview, sich für eine Abschaffung von Bargeld einzusetzen. Dies würde nicht nur Vorteile für die Verbraucher bedeuten, sondern auch die Bekämpfung von Geldwäsche und anderer Finanzstraftaten erleichtern.
Kulturelle Besonderheiten
Entscheidend für den Wandel wird sein, ob Zahlungsmethoden als sicher gelten und wie teuer sie sind. "Die Bereitschaft der Verbraucher für Zahlungsdienstleistungen zu bezahlen ist äußerst gering", so Bundesbank-Vorstandsmitglied Thiele. Die Europäische Union hat kürzlich eine Verordnung verabschiedet, die die Gebühren für Zahlungen mit EC- und Kreditkarten begrenzt. Das sollte auch deren Verwendung noch ein Stückchen populärer machen. "Der Trend zu weniger Bargeld wird sich fortsetzen, auch wenn dies ein kontinuierlicher und langsamer Prozess ist", prognostiziert Rüter vom EHI Retail Institute.
Für die Verfechter der Cash-Zahlung steht das Bargeld für eine Art von Freiheit. Drei von vier Deutschen sagten bei einer Umfrage der YouGov Polling-Gruppe, sie würden es nicht akzeptieren, wenn Händler in Zukunft kein Bargeld annehmen würden. "Jedes Land hat seine eigene Art und Weise der Zahlung", so Rüter. Das beruhe auf "einer Mischung aus kulturellen Besonderheiten, spezifischen Bedürfnissen und gesundem Menschenverstand". Und all das könne sich mit der Zeit weiterentwickeln. Vor 15 Jahren zum Beispiel haben die Deutschen aufgehört Schecks zu nutzen - sie galten als überholt.
(AFP)