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Wenn Selbstmord zum Faszinosum wird

Sabine Peschel
18. Mai 2017

Seit der Antike haben sich literarische und philosophische Texte mit dem Suizid beschäftigt - manchmal mit tödlicher Verführungsgewalt. Setzen Filme und Todesspiele im Internet diese Tradition fort?

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Holzstich: Der Medicus an Werthers Leiche
Bild: picture-alliance/akg-images

Die Realität beeinflusst die Literatur, verändert sie beständig in ihrer Sprache und ihren Formen. Dass  Texte und Bücher umgekehrt aber auch eine ganz direkte Wirkung auf das Leben von Menschen haben können, ist ebenso eine Tatsache. Die ist allerdings im allgemeinen Bewusstsein wenig verankert: Schließlich handelt es sich ja 'nur' um Fiktion.

Johann Wolfgang von Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" hatte einen solchen Effekt. In seiner ersten, 1774 noch anonym veröffentlichten Fassung prägte er eine ganze Epoche: Mit Gefühl statt Vernunft und Empfindsamkeit anstelle von Aufklärung erreichte der damals erst 25-jährige Autor eine junge Generation. Das Zeitalter des Sturm und Drang war geboren - und mit ihm eine fast grenzenlose Leidenschaftlichkeit.

Verführung zum Selbstmord

Gemälde Eien Frau liset aus einem Buch, andere hören ihr zu
Ein Bestseller: Gemeinsame Lektüre des "Werther" (1870)Bild: gemeinfrei

Werther gibt sich einer hoffnungslosen Liebe hin, die ihn in den Selbstmord treibt - schwärmerisch, radikal, an der Welt verzweifelnd. Und ungeheuer berührend. Der fiktionale Suizid löste einen realen Nachahmungseffekt aus: Etwa ein Dutzend junge Menschen sollen sich im Geiste Werthers umgebracht haben. Die Debatte um Goethes Bestseller - der erste der deutschen Literaturgeschichte - wurde äußerst emotional geführt. Der "Werther" verführe junge Menschen zum Selbstmord und untergrabe moralische und religiöse Werte, schimpften die Kritiker. Goethe selbst entschärfte seinen Roman in einer zweiten Fassung von 1787, der Selbstmord sollte weniger attraktiv erscheinen.

Heute sprechen wir vom Werther-Effekt, wenn in Folge eines aus Medien, Literatur oder Film bekannten Selbstmordes vermehrt Suizide geschehen. Die Netflix-Serie "13 Reasons Why", die auf Deutsch unter dem Titel "Tote Mädchen lügen nicht" läuft, hat dieselbe Diskussion ausgelöst, die schon Goethes Zeitgenossen geführt haben: Muss man Jugendliche, erst recht labile junge Menschen, besser vor medialen Produkten mit einem hohen Identifikationspotenzial schützen? Ist es moralisch verwerflich, den Weg zum Selbstmord und den Suizid selbst so detailliert, anrührend und aus intensiver Nähe darzustellen? Macht man sich vielleicht sogar im juristischen Sinne schuldig?

Ein Mädchen sitzt in der Badewanne
Die Schauspielerin Katherine Langford als Hannah Baker in "13 Reasons Why"Bild: Netflix

Fatale Vorbilder mit Medienwirkung

Die Macher der erfolgreichen Serie argumentieren, dass es gefährlicher sei, nicht über Selbstmord zu sprechen, als ihn zum Thema zu machen. Ohnehin sei es in Zeiten des Internets unmöglich, verführerische Angebote, die Jugendliche zum Suizid verleiten, zu unterdrücken. Dass sie damit Recht haben, zeigen traurige Beispiele: Das Online-Spiel "Der blaue Wal" soll in Russland bis zu 130 Minderjährige in den Tod getrieben haben, seitdem es 2016 in sozialen Netzwerken auftauchte. Die Aufgaben, die der "Spieler" zu erfüllen hat, werden immer intensiver und gefährlicher: Was mit "Schau dir den ganzen Tag Horrorfilme an" beginnt, endet nach 50 Tagen mit dem Aufruf zum Selbstmord. Schon 2012 erschütterte eine Selbstmordwelle Russland, als jugendliche Kandidaten im Internet nach Gleichgesinnten suchten und sich im "Klub der Selbstmörder" verabredeten. Fünf Jahre zuvor hatte eine Suizid-Serie, bei der sich 17 Jugendliche in Wales das Leben genommen hatten, Großbritannien erschüttert. Es hieß, die meisten von ihnen seinen erst durch die Berichterstattung über die Selbsttötung der "tragischen jungen Helden" auf die Idee gekommen, sich das Leben zu nehmen.

Redeverbote gegen die Selbstmord-Kultur

Die Literaturgeschichte ist voll von Beispielen unsterblich gewordener Selbstmorde, fiktionaler und tatsächlicher. Bei Shakespeares Romeo und Julia führte ein kommunikatives Missgeschick und der Druck der liebesfeindlichen Welt zum Tod von eigener Hand. Der Doppelselbstmord des Dramatikers Heinrich von Kleist und seiner krebskranken Vertrauten Henriette Vogel vor mehr als 200 Jahren wird noch heute wie eine aufrüttelnde Botschaft empfunden.

Buchcover Der Selbstmord von Roger Willemsen
Bild: Fischer Taschenbuch

"Der freigewählte Tod hat immer schon Irritation und Bestürzung ausgelöst", schrieb der 2016 im Alter von 60 Jahren viel zu früh verstorbene Publizist Roger Willemsen. 30 Jahre vor seinem - unfreiwilligen - Tod hat er literarische Texte, Briefe und Manifeste über den Selbstmord in einem Band versammelt. Von Seneca über Casanova, Schopenhauer, und Dostojewski bis hin zu Kafka und Brecht - es gab es kaum einen namhaften Schriftsteller, der sich nicht literarisch oder intellektuell mit dem Selbstmord beschäftigt hat. In Willemsens Buch ist auch von einer "Selbstmörder-Kultur" die Rede, die es schon in der griechischen Antike gegeben - und die zum zeitweiligen Redeverbot des Philosophen Hegedias geführt habe. "Nicht aus weltanschaulichen Gründen, sondern weil der Staat die destabilisierende Wirkung solcher Reden erkannte, man sprach sogar von einer Selbstmordepidemie." Die Geschichte des Selbstmords sei voller solcher Verbote.

Faszination und Todessehnsucht

Karoline von Günderrode
Die Dichterin Karoline von Günderrode verübte 1806 Selbstmord - zuvor las sie den "Werther" gemeinsam mit ihrer Busenfreundin Bettina von ArnimBild: Imago/imagebroker

"Wir lasen zusammen den Werther und sprachen viel über den Selbstmord; sie sagte: 'Recht viel lernen, recht viel fassen mit dem Geist und dann früh sterben; ich mag's nicht erleben, daß mich die Jugend verlässt'." Das schrieb die Schriftstellerin Bettina von Arnim Anfang des 19. Jahrhunderts über ihre innige Freundin, die Dichterin Karoline von Günderrode. Beide zählen zu den bedeutenden, autonomen Frauen der deutschen literarischen Romantik. "Die Günderrode", wie sie genannt wurde, erstach sich kurz nach diesem Gespräch 1806 mit einem goldenen Dolch. Sie war gerade 26 Jahre alt. Literarisch lebt sie in mehreren Texten weiter, unter anderem in Christa Wolfs Roman "Kein Ort. Nirgends". Darin begegnet sie Heinrich von Kleist.

Literatur und Medien können zur Gewalt - auch gegen sich selbst - verführen. Ob sie aber Grund oder - wie in den meisten Fällen sicherlich - nur Auslöser sind, lässt sich erst am Einzelfall festmachen. Karoline von Günderrode brachte sich letztlich nicht wegen "Werther" um, sondern wegen einer enttäuschten Liebe. Ihre Todessehnsucht aber sah sie in ihrem literarischen Vorbild gespiegelt. "Tote Mädchen lügen nicht" wird fortgesetzt.