Zerbrechlicher Frieden
24. Oktober 2012Omar Deeb wundert sich nicht. Dass es in seinem Land immer wieder zu Gewaltausbrüchen kommt, ist seiner Meinung nach nur logisch: "Alle Libanesen wissen ganz genau, dass unser politisches System, das auf dem Konfessionalismus basiert, der Grund für all diese Probleme ist."
Omar Deeb ist Physiklehrer an einem Gymnasium in Allay, einer kleinen Stadt östlich von Beirut. Der 29-Jährige gehört einer linken Organisation an, die für ein säkulares Libanon kämpft. Die Vermischung von Religion und Politik hält Deeb für das größte Problem des Landes. Sie sorge für andauerndes Misstrauen und für Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften.
Religion ist Politik
Im Libanon bedeutet Sunnit, Schiit oder Christ zu sein nicht nur, zu einer Religionsgemeinschaft zu gehören, sondern auch, Teil eines bestimmten politischen und wirtschaftlichen Netzwerks zu sein. Der Libanon ist eine parlamentarische Demokratie mit stark konfessionellen Zügen. Die Parlamentssitze und die höchsten Ämter im Staat werden nach einem religiösen Proporzsystem aufgeteilt. Dieses System garantiert zwar allen religiösen Gemeinschaften im Land die Teilhabe an der Macht - aber es spricht der Religion auch eine herausragende politische Rolle im Staat zu.
Jawad Adra, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Information Internation in Beirut, beobachtet das politische System im Libanon seit vielen Jahren kritisch: "Dieses konfessionelle System bringt die religiös-politischen Führer hervor, die mächtigen Männer im Land." Als Beispiel nennt er Hassan Nasrallah: Der Generalsekretär der Hisbollah gilt als Führer der Schiiten. Weitere Beispiele seien Saad Al-Hariri, der an der Spitze der sunnitischen Zukunftsbewegung steht, oder Michel Aoun, Führer eines Großteils der Christen.
Was allen gemein sei: Sie könnten Angst in der Bevölkerung schüren, erklärt Adra: "Wenn ein schiitischer oder sunnitischer Führer zu einer Demonstration aufruft und sagt, die jeweilige Religionsgemeinschaft sei bedroht, dann kann er Tausende mobilisieren." Bei jeden Wahlen würden sich die Bürger fragen: "Wenn ich meinen Führer nicht wähle, wer soll mich dann vor den anderen beschützen?"
Sunniten fühlen sich ausgeschlossen
Auch am vergangenen Wochenende ging es bei den Protesten in Beirut um das Gefühl der Bedrohung, das viele sunnitische Libanesen nach dem Mord am Polizeigeheimdienstchef Wissam Al-Hassan empfinden. Dieses Gefühl wurde von oppositionellen Politikern weiter angestachelt. Al-Hassan war Sunnit. Er führte außerdem einen effizienten Sicherheitsapparat an, der unabhängig von der schiitischen Hisbollah agierte.
Die Wut der Menschen auf den Straßen richtete sich vor allem gegen die libanesische Regierung, die seit Juni 2011 im Amt ist. Sie besteht aus schiitischen, christlichen und sunnitischen Kräften. An der Spitze der Regierung steht Najib Mikati. Der Sunnit Mikati vertritt allerdings nur einen kleinen Teil der sunnitischen Gemeinschaft im Libanon. Die Mehrheit der Sunniten fühlt sich von der Teilhabe an der Regierungsgewalt ausgeschlossen. Viel Macht liegt in den Händen der schiitischen Parteien, der Amal-Bewegung und der Hisbollah.
Stabilität hat Priorität
Nicht nur die Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften sorgen für Unruhe im Libanon, sondern auch das Verhältnis der verschiedenen politischen Kräfte im Land zum Regime in Syrien. Stärkster Verbündeter des Regimes in Damaskus ist die schiitische Hisbollah. Die Opposition dagegen, mit der sunnitischen Zukunftsbewegung an der Spitze, ist Syrien-kritisch.
Das Attentat vom vergangenen Freitag (19.10.2012) wird von vielen Libanesen auch als Teil des Konfliktes zwischen pro- und anti-syrischen Kräften im Libanon gesehen. Al-Hassan war ein Kritiker Syriens und leitete zweieinhalb Monate vor seinem Tod eine Operation, die zur Verhaftung des ehemaligen libanesischen Ministers Michel Samaha führte. Samaha wird beschuldigt im Auftrag von Damaskus Bombenanschläge im Libanon geplant zu haben.
Die libanesische Opposition fordert nach wie vor vehement den Rücktritt der Regierung. Aber es ist unwahrscheinlich, dass Ministerpräsident Najib Mikati dieser Forderung nachkommen wird. Momentan liegt der Fokus darauf, die Stabilität im Land wiederherzustellen. Das sieht auch die internationale Gemeinschaft so: In den vergangenen Tagen haben eine Reihe von westlichen Staaten, unter anderem die USA und Großbritannien, deutlich zu erkennen gegeben, dass ihnen eine libanesischen Regierung mit Mikati lieber ist als gar keine.