Als Tyson Gay seinen Oberkörper über die Ziellinie warf, hatte er Historisches geleistet - und doch schaute kaum jemand hin. An jenem 16. August 2009 lief Gay bei der Leichtathletik WM in Berlin so schnell wie kein anderer in der Geschichte seines Landes USA, seit jeher eine große Sprinternation: 9,71 Sekunden, neuer US-Rekord und nur zwei Hundertstel über dem bisherigen Weltrekord (9,69 Sek., gelaufen von Usain Bolt in Peking 2008). Doch Gays sehr gute Zeit interessierte nur wenige, denn vor ihm war Usain Bolt in einer neuen Fabelzeit durchs Ziel gestürmt: 9,58 Sekunden, eine Marke, die viele Wissenschaftler für unmöglich gehalten hatten. Während Bolt sich im weiten Rund des Berliner Olympiastadions feiern ließ, blieb Gay "nur" Silber, unter den Top-Sprintern meist synonym mit der Farbe des ersten Verlierers.
Gay fühlt sich "im Stich gelassen" - nur von wem?
Bei der bevorstehenden WM in Moskau (10.-18.8.2013) wollte Gay endlich aus dem Schatten seines großen Konkurrenten heraustreten, Bolt vom Sockel stürzen. Nach jahrelangen Verletzungsproblemen schien er im WM-Jahr die größte Gefahr für Bolt zu sein, lief reihenweise bessere Zeiten als der Jamaikaner. "Ich glaube, ich habe gegen jeden in der Welt eine gute Chance", sagte Gay noch vor knapp zwei Wochen. "Ich muss nur gesund bleiben." Er irrte sich.
Tyson Gay wird wohl kaum bei der WM starten, denn er steht nach einer positiven Dopingprobe unter Dopingverdacht - ebenso wie Asafa Powell, Nesta Carter und Sherone Simpson. Gay selbst machte seinen Fall öffentlich, gab einen positiven Doping-Test zu, ohne aber das gefundene Mittel zu nennen. Seine Verteidigungsstrategie lieferte er gleich mit: "Ich habe jemandem vertraut und wurde wohl von diesem im Stich gelassen." Gedopt höchstens Widerwillen also.
Sind positive Fälle nun positiv oder negativ für den Sport?
Glaubwürdig ist das kaum, denn der 100-Meter-Sprint ist seit Jahren dopingbelastet und eine höchst zweifelhafte Show der Muskelpakete. Spätestens seit dem Dopingskandal um Ben Johnson bei den Olympischen Spielen 1988 ist der Glaube an die Sieger der olympischen Königsdisziplin erschüttert. "Die Zweifel laufen immer mit", bekennt Helmut Digel, Ratsmitglied im Leichtathletik-Weltverband IAAF. Dennoch sei die Nachricht der positiven Fälle für ihn "ein Schock und ohne Zweifel ein Skandal. Denn für alle sauberen Athleten ist dies eine Schande, was hier Betrüger in der Leichtathletik tun".
Die Doping-Enthüllungen um die Sprintstars Tyson Gay und Asafa Powell aus Jamaika haben der internationale Leichtathletik kurz vor der WM einen nachhaltigen Schock versetzt. "Die Glaubwürdigkeit unseres Anti-Doping-Programms und der Leichtathletik wird jedes Mal, wenn wir einen neuen Fall aufdecken, gestärkt, nicht geschwächt", bemühte sich Nick Davies, stellvertretender IAAF-Generalsekretär, um Schadensbegrenzung. Auch Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes DLV, versuchte der Affäre Positives abzugewinnen: "Auf der einen Seite stellen diese Fälle natürlich eine Belastung für den Sport dar", sagte Prokop im DW-Interview, "aber auf der anderen Seite zeigen Sie, dass der Sport die Dopingbekämpfung ernst nimmt und dass immer mehr Betrüger ausgeschlossen werden. Ich glaube bei der Endabwägung, dass die Leichtathletik durch solche Prozesse gewinnt".
Chance für deutsche Sprinter?
Vielleicht hofft Prokop auch, dass die eigenen Sprinter wieder bessere Chancen haben. Seit Jahren laufen Deutsche auf den 100 Metern der Weltspitze hinterher. 10,09 Sekunden ist die Bestzeit des hoffnungsvollen Talentes Julian Reus, amtierender Deutscher Meister - weit weg von Zeiten, wie sie Superstar Usain Bolt läuft. "Für uns deutsche Sprinter ist es [die Aufdeckung der Dopingfälle, Anm. d. Red.] ein positives Zeichen, weil es unsere Leistung aufwertet", meinte Reus. Verbandspräsident Prokop sieht das ähnlich. Die Fälle machen ihm "Mut, unverdrossen weiter zu machen, die Bemühungen zu verstärken und den Athleten, die bisher nicht in den Top-Bereich gekommen sind, zu sagen, dass man auch mit sauberen Leistungen erfolgreich sein kann".
Dieser Beweis ist im 100-Meter-Sprint noch zu erbringen, wenn er überhaupt zu erbringen ist. Der Dopinganalytiker Professor Wilhelm Schänzer hat wenig Vertrauen in die Disziplin. "Wir wissen, dass Doping im Sprint ein Riesenproblem war und möglicherweise noch ist", sagte Schänzer im Gespräch mit der DW. Für ihn könnte die bei den jamaikanischen Sprintern gefundene Substanz Oxilofrin - eigentlich für Menschen mit Kreislaufschwäche gedacht - aber auch durch verunreinigte Nahrungsergänzungsmittel in den Körper der Athleten gelangt sein. Denn richtig Sinn machen Stimulanzien wie Oxiflorin eher bei länger andauernden Sportarten, meint Schänzer. Vielmehr glaubt er an den fortgesetzten Einsatz anaboler Dopingmittel, die zum Muskelwachstum führen: "Die Leistungssteigerungen der letzten Jahrzehnte sind im wesentlichen mit Anabolika und möglicherweise auch Wachstumshormonen in Verbindung zu bringen. Das wird man nicht durch Stimulanzien erreichen können."
Ein alter Bekannter auf Bahn neun
Egal wie die Dopingfälle um Gay und Powell ausgehen werden: Neben den acht Teilnehmern des 100-Meter-WM-Finales in Moskau wird es auf Bahn neun einen weiteren Starter geben: den Zweifel.