Deutsche Filmgeschichte (4): Die Dokumentarfilme
10. Januar 2012Die Aufnahmen der Brüder Skladanowsky 1895 und des Filmpioniers Oskar Messter gelten als erste deutsche Dokumentarfilme: die Abbildung von Alltags- und Straßenszenen. Der Dokumentarfilm jener Jahre beschränkte sich auch durch die technischen Grenzen auf die Darstellung von Ereignissen. Noch während des deutschen Kaiserreichs entwickelte sich der Kulturfilm als eines der ältesten Dokumentarfilmgenres. Ziel dieser populärwissenschaftlichen Tier-, Natur-, Medizin- und Reisefilme war die visuelle "Kulturpflege", wie es damals hieß. Während der Weimarer Republik produzierte dann vor allem die UFA Kulturfilme für das Beiprogramm der Hauptfilme.
Mit "Berlin, Symphonie einer Großstadt" hatte Walter Ruttmann 1927 einen aufsehenerregenden Erfolg. Der Film hatte keine Handlung, wurde mit versteckter Kamera gedreht und beschrieb 24 Stunden in der Großstadt Berlin. Die Musik dazu folgte einer symphonischen Satzstruktur. Filmkritiker lobten die ästhetisch-avantgardistische Form und visuelle Kraft der Montage. Andererseits wurde die soziale Blindheit des Films für die Situation der Arbeiter gerügt. "Menschen am Sonntag" war wiederum ein Grenzfall des Dokumentarischen: Der mit Laienschauspielern besetzte Film erzählte von einem Sommerwochenende des Jahres 1929 in Berlin und war ein herausragendes Beispiel für die sogenannte Neuen Sachlichkeit. An der halbdokumentarischen Collage aus Spielszenen und Reportage wirkten Billy Wilder, Fred Zinnemann und die Gebrüder Curt und Robert Siodmak mit.
Propaganda und Dämmerschlaf
Während der NS-Zeit waren Dokumentarfilme wie Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" (1935) Beispiel für nationalsozialistische Propaganda. Riefenstahl gelang die ästhetische Übertragung des Führerprinzips auf das Medium Film. 1936 drehte sie den offiziellen Dokumentarfilm über die olympischen Spiele in Berlin: "Olympia - Fest der Schönheit, Fest der Völker" wurde nach dem Krieg in den USA in die Liste der zehn besten Filme aller Zeiten aufgenommen. Riefenstahl setzte Standards für den Dokumentarfilm bis heute. Doch ihr Kult um die schönen und starken Körper wurde Teil jener Kunst, in der die US-Kritikerin Susan Sontag eine genuin faschistische Ästhetik sah.
Nach 1945 bis in die 1950er Jahre hinein dämmerte der deutsche Dokumentarfilm in einer Art Winterschlaf vor sich hin. Was es im Kino zu sehen gab, waren Traumstrassenfilme von fernen Orten, die für die Nachkriegsbevölkerung unerreichbar schienen, dafür aber schöne Landschaftsbilder zeigten.
Das änderte sich erst in den 1960er und 1970er Jahre. Allen voran in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Erwin Leiser war einer der ersten Dokumentarfilmer, die sich mit dem NS-Staat auseinandersetzten. Zu seinen bekanntesten Werken gehörten "Mein Kampf" (1959) und "Deutschland, erwache!" von 1968. In diesem Zeitraum entwickelte sich der sogenannte Kompilations- oder Umwertungsfilm. Die Filmemacher bedienten sich dabei historischer Filmaufnahmen, zum Beispiel der NS-Wochenschauen oder einzelner Filmszenen aus Riefenstahls "Triumph des Willens", montierten diese neu und kombinierten das Material mit selbstgedrehten Passagen. Am Ende wurden den Filmen kritisch-kommentierende Texte und Musiken unterlegt, um den verbrecherischen Charakter der NS-Diktatur herauszuarbeiten.
Kritische Zeigefinger-Doku
Durch den Einfluss des US-amerikanischen Direct Cinema und des französischen Cinéma Vérité vollzog sich dann ein neuerlicher Wandel: ein beobachtender und gesellschaftskritisch engagierter Dokumentarfilm gewann an Bedeutung. Eberhard Fechner entwickelte mit "Nachrede auf Klara Heydebreck" (1969) eine ungewöhnliche Form des dokumentarischen Fernsehspiels: filmische Biographien, in deren Mittelpunkt vor allem die "kleinen Leute" standen und nicht die Prominenten und Einflussreichen.
Dokumentarfilmer wie Fechner wollten das Leben zeigen, wie es wirklich war, und zur Verbesserung der kritisierten Gesellschaftsverhältnisse beitragen. Filmemacher wie Fechner verzichteten auf den bislang üblichen, scheinbar allwissenden Autoren-Kommentar und ließen die Betroffenen in Gesprächen, Interviews und Statements selber zu Wort kommen. Durch Beobachtung mit der Kamera erkundeten sie das Arbeits- und Alltagsleben der Bevölkerung und verzichteten weitgehend auf gestellte Szenen und filmische Inszenierungen, wie sie vorher üblich gewesen waren. Der Dokumentarfilm entwickelte sich zu einem kritischen Medium, und wurde jetzt vor allem im Fernsehen gezeigt.
Radikal subjektiv statt beobachtend
Klaus Wildenhahn zählte mit "Emden geht in die USA" (1975) zu den renommiertester deutscher Vertreter dieses Direct Cinema. "Rote Fahnen sieht man besser" (1971) von Rolf Schübel und Theo Gallehr war ein Dokumentarfilm aus dem Bereich der Arbeits- und Gewerkschaftswelt. Der Streifen über die Schließung eines Chemie-Betriebes und die Tarifauseinandersetzungen in der Metallindustrie Anfang der 1970er Jahre wurde zum Vorbild eines behutsam beobachtenden und zugleich engagierten wie dogmenfreien Dokumentarismus, der zahlreiche junge Filmautoren vor allem nach 1968 stark beeinflusste. Dazu gehören auch Schübels Dokumentarfilme "Nachruf auf eine Bestie" (1984) über die Biographie eines Kindesmörders und "Der Indianer" (1988). Darin erzählte der Filmemacher die Geschichte eines Krebskranken. Was Schübel erstmalig im Dokumentarfilmbereich gelang, war der radikale Einsatz der subjektiven Kamera. Schübel ging es um die Enttabuisierung der Krankheit Krebs und die Ambivalenz der Gerätemedizin.
In "Deutschland im Herbst" (1978) reflektierten episodenhaft und mit fiktionalen Elementen versehen Edgar Reitz, Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder, allesamt Vertreter des neuen deutschen Films, den Terrorismus. Dieser politisch-dokumentarische Essay-Film versuchte auf die aktuelle politische Situation in Deutschland und die gesellschaftlichen Gefahren des Terrorismus filmisch zu reagieren.
Mit dem Niedergang der Protest- und Alternativbewegungen geriet in den 1980er-Jahren der selbstgewisse Aufklärungsanspruch des engagierten Dokumentarfilms in die Krise. Auffällig war dabei vielfach die Abkehr von den großen gesellschaftskritischen Themen zugunsten einer stärkeren Hinwendung zu den verschiedensten filmischen Mischformen. Sogenannte Doku-Dramen verbanden zur Aufdeckung politischer Skandale dokumentarisches Material mit theatralischen Inszenierungen oder rekonstruierten historische Ereignisse mit Mitteln der Fernsehspiel-Regie: eine Technik, die Heinrich Breloer und Horst Königstein zur Perfektion entwickelt hatten.
Neue Formate und Herangehensweisen
Zu den eher essayistischen Dokumentarfilmern gehörten Harun Farocki und Hartmut Bitomsky. In seinem Dokumentarfilm "Der VW-Komplex" (1990) war Bitomsky weniger an den sozialpolitischen Aspekten des Themas interessiert. Vielmehr reflektierte er in bewusst assoziativer Kommentierung über den Konzern, die Fabrikhallen, die Menschen und Maschinen. Im Zusammenspiel aus den klug aufgenommenen Bildern und dem hintersinnigen Kommentar ergab sich eine ebenso komplexe wie spannende Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeit und der Schwierigkeit ihrer Abbildbarkeit. Politisch engagierte Filme bedienen sich moderner Beobachtungs- und Montagetechniken, um ihre politischen Lageberichte oder ihre Kritik an Umweltzerstörung, Krieg oder an der Geschäftemacherei internationaler Konzerne auch visuell wirkungsvoll vorzubringen wie Andreas Veiel, Werner Herzog, Thomas Schadt, Rosa von Praunheim und Romuald Karmakar.
3D im Dokumentarfilm
Heute erzielen Dokumentarfilmer ihre stärksten Wirkungen mit Hilfe verdeckter Inszenierungen, in denen einzelne Szenen aus dem Leben der Protagonisten von diesen selbst nachgestellt werden. Oder sie kombinieren dokumentarische Sequenzen mit Spielfilmszenen, um die Filme dichter, lebendiger und spannender zu gestalten und das Politische mit dem Privaten zu verschachteln. Mit seinem Portrait der Wuppertaler Choreographin Pina Bausch wendete der Filmemacher Wim Wenders erstmals die 3D-Technik im Dokumentarfilm an. Wenders erhielt dafür den Europäischen Filmpreis sowie den Bundesfilmpreis 2011.
Autor: Michael Marek
Redaktion: Jochen Kürten