Deutsche im Hexenkessel Boliviens
18. Oktober 2003Keine Entwarnung in Bolivien. Seit Ende September 2003 gibt es im ganzen Land Protestaktionen, Demonstrationen, Streiks und Straßenblockaden. Zum Teil kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften. Mehr als 80 Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Aufgrund der angespannten Situation plant das Auswärtige Amt, deutsche Touristen aus dem Land zu bringen. Zur Zeit wohnen etwa 36 Touristen auf Anraten der Deutschen Botschaft in einem internationalen Hotel in La Paz. Die Botschaft hält ständigen Kontakt mit ihnen.
Eine erste Touristengruppe wurde bereits am Dienstag (14.10.2003) ausgeflogen. Im Augenblick ist eine weitere Evakuierung jedoch nicht möglich, da die Straßen zum Flughafen El Alto durch Straßenblockaden versperrt sind. Trotzdem: "Wir hoffen die Touristen in den nächsten 72 Stunden raus zu bekommen" erklärt Rolf Holscher, ein Mitarbeiter der Deutschen Botschaft am Freitag (17.10.2003).
Eva Pevec bleibt - aus Loyalität
Insgesamt schätzt das Auswärtige Amt befinden sich 1200 Deutsche in Bolivien, die dort leben und arbeiten - darunter auch Entwicklungshelfer. Auch ihnen wurde die Evakuierung angeboten, aber viele bleiben freiwillig - so auch Eva Pevec. Im Gespräch mit DW-World erzählt sie: "Wir haben das Angebot gehabt von der deutschen Botschaft. Die organisieren eine zweite Evakuierung. Manche Kollegen haben sich das ganz ernst überlegt, besonders, die die noch neu im Land sind und Kinder haben. Für mich kam das nicht in Frage. Wir sind Leute aus El Alto, wir lassen unsere Nachbarn nicht im Stich. Aber auch meine Kollegen haben sich entschieden nicht zu gehen."
Eva Pevec arbeitet für die Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe von der katholischen Kirche. Seit einigen Tagen hat sie Friedensgebete organisiert. "Die werden sehr gut angenommen. Die Leute kommen und können hier wieder Hoffnung tanken." So empfindet sie sich als Stütze für ihre Nachbarschaft.
Sie lebt mit ihrem Mann am Rande der ärmsten Stadt Boliviens, El Alto. Einfach ist ihr Leben nicht mehr: "Wir benutzen möglichst kein Gas zum Kochen. Nichts wird mehr weggeschmissen, Lebensmittel werden bis zum Letzten aufgebraucht – auch wenn sie nicht mehr ganz gut sind. In den kleinen Geschäften hier gibt es nur noch trockene Lebensmittel, also Mehl, Reis, Nudeln. Kein Brot, kein Obst, kein Gemüse. Neuerdings gibt es allerdings eine Luftbrücke, so dass einige Sachen nach El Alto gebracht werden." Eine Nachbarin will demnächst die zwei Stunden in das Zentrum von El Alto auf sich nehmen und ihr dann frische Lebensmittel mitbringen.
Nachbarn halten eng zusammen
Nachbarschaft ist wichtig in Bolivien. Da die staatliche Unterstützung nicht reicht, haben sich die Menschen selbst organisiert. Jeder noch so kleine Stadtteil ist in Nachbarschaftsgemeinschaften organisiert und jede Gemeinschaft hat ihren Vorsitzenden.
"Es gab am Mittwochabend (15.10.2003) eine Razzia", sagt Eva Pevec. "Da ist das Militär in verschiedene Häuser rein, um die Nachbarschaftsvorsitzenden zu holen. Die hatten sich aber alle versteckt und sind untergetaucht. Aus der Ferne waren Schüsse zu hören. Wir dachten das Militär nimmt jetzt El Alto ein, damit sich die Demonstration am Donnerstag nicht nach La Paz ausweitet. So will man die Bevölkerung einschüchtern", vermutet Frau Pevec.
Ohne Erfolg: Am Donnerstag zog eine riesige Menschenmenge von El Alto nach La Paz. "Mein Mann war dabei, er ist Bolivianer", erzählt Eva Pevec. "Sie riefen ‘Mörder geh nach Hause’ oder ‘Trotz Maschinengewehr – El Alto bleibt immer auf den Füßen, geht nicht in die Knie’ und ‘Wir machen weiter’. Er hat mir erzählt, dass die Stimmung toll war, dass es niemanden auf der Straße gab, der nicht mitrief. Ich hatte am Donnerstag das erste Mal richtig Angst, ich wußte ja nicht, ob er wiederkommen würde." Die Demonstration verlief dann doch relativ ruhig.
Keine Entwarnung
Für das Auswärtige Amt allerdings kein Grund zur Entwarnung. Nach ihrer Einschätzung droht die innenpolitische Situation in Bolivien weiter zu eskalieren. Auch die Mitarbeiter einer Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe in Santa Cruz rechneten am Freitag (17.10.2003) mit bevorstehenden gewalttätigen Auseinandersetzungen, da rechtsggerichtete und rassistische Oraganisationen aus Santa Cruz planten, den bisher friedlichen Protestmarsch der Bauern aus Yapacani nicht zuzulassen.