Mesale Tolu aus U-Haft entlassen
18. Dezember 2017"Ich habe acht schwierige Monate durchgemacht", sagte die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu in Istanbul erleichtert. "Ich bin sehr glücklich, dass ich auf freiem Fuß bin." Ihre Freilassung sei für sie überraschend gekommen, weil sich in der Türkei "nicht immer das Recht durchsetzt". Ihre Behandlung durch die türkischen Behörden bezeichnete Tolu als "Skandal".
Erst am Montagabend konnte die aus Ulm stammende Journalistin eine Polizeistation im Istanbuler Stadtteil Fatih in Begleitung ihrer Familie verlassen. Dort war sie nach der gerichtlich angeordneten Entlassung hingebracht und festgehalten worden. Offenbar gab es zwei sich widersprechende Anordnungen der Behörden. Tolus Anwältin Gülhan Kaya erklärte, die Anti-Terror-Einheit der Polizei habe Tolus Abschiebung angeordnet, weshalb sie nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft in die Polizeistation gebracht wurde. Allerdings hatte das Gericht zuvor ein Ausreiseverbot bis zu einem Urteil in dem Verfahren gegen die Deutsche verhängt.
Deutscher Botschafter empört über "Versteckspiel"
Am Mittag hatte ein Gericht Tolus Entlassung aus der U-Haft und dem Gefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy angeordnet. Ihr Verbleib war danach zunächst unklar, die Familie und der deutsche Botschafter Martin Erdmann suchten verschiedene Polizeistationen in Istanbul nach ihr ab. "Die spielen mit uns ein Versteckspiel", empörte sich Erdmann über das Verhalten der türkischen Behörden.
Mehr als acht Monate saß Tolu in türkischer Untersuchungshaft. Ihr Vater Ali Riza Tolu zeigte sich nach dem Gerichtsbeschluss erleichtert. "Ich bin der glücklichste Mensch der Welt. Endlich werde ich meine Tochter wieder sehen", sagte Ali Riza Tolu. "Ich bedanke mich herzlichst bei all den Medien und Unterstützern, durch die unsere Stimme erhört wurde", sagt er der DW.
Tolu muss in der Türkei bleiben
Tolu wurde nur unter Auflagen auf freien Fuß gesetzt. Neben der angeordneten Ausreisesperre müsse sie sich zudem jeden Montag bei den Behörden melden, sagte die Linken-Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel, die den Prozess in Istanbul beobachtet. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft die Entlassung aus der Untersuchungshaft beantragt. Tolus ebenfalls inhaftierter Ehemann, Suat Corlu, war Ende November freigelassen worden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht in der Freilassung Tolus nur eine bedingt gute Nachricht. "Das ist eine einerseits gute Nachricht im Blick auf die Tatsache, dass sie wohl freikommen wird", sagte Merkel in Berlin. "Es ist auf der anderen Seite natürlich noch keine komplett gute Nachricht, weil sie das Land nicht verlassen darf und auf der anderen Seite auch der Prozess weitergeführt wird."
Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) reagierte positiv auf die Entscheidung. "Das sind nicht nur gute Nachrichten, sondern das ist auch eine immense Erleichterung", sagte Gabriel. "Ich glaube, alle in Deutschland - und auch ich persönlich - freuen uns mit Mesale Tolu über die Entscheidung des Gerichts." Allerdings betonte auch Gabriel: "Damit ist das Verfahren noch nicht beendet, aber ein erster, großer Schritt ist damit gemacht."
Auch die Grünen begrüßten die Entscheidung und übten zugleich scharfe Kritik am Zustand der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. "Mit fairen Verfahren hatten und haben die Vorwürfe gegen Mesale Tolu ebenso wie gegen Deniz Yücel und viele andere nichts zu tun", sagte der Grünen-Bundesvorsitzende Cem Özdemir. Er forderte die türkische Regierung auf, sämtliche politische Gefangene freizulassen und die deutschen Staatsbürger wie Mesale Tolu unmittelbar ausreisen zu lassen.
20 Jahre Haft drohen
Im dem Verfahren gegen die 33-Jährige und 17 türkische Angeklagte geht es um den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Mit Terrororganisation ist die linksextreme MLKP gemeint, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Der aus Ulm stammenden Tolu drohen nach Angaben ihrer Anwälte bis zu 20 Jahre Haft. Die Angeklagten fordern ihren Freispruch.
Der Prozessauftakt war am 11. Oktober gewesen. Tolu sagte nach Angaben von Beobachtern am Montag bei ihrer Verteidigung vor Gericht: "Ich wurde verhaftet, weil ich Journalistin bin und beabsichtigt wurde, Druck auf die Medien auszuüben. Der Druck auf die Medien wurde fortgesetzt, aber ich denke, dass die Justiz gerecht entscheiden wird."
Die meisten türkischen und deutschen Reporter waren von der Verhandlung ausgeschlossen. Als Grund gaben die Sicherheitskräfte im zentralen Gerichtsgebäude in Istanbul an, der Saal sei voll. Größere Säle seien belegt.
"Der einzige Grund, wieso Mesale so lange inhaftiert war, ist, dass sie als Journalistin gearbeitet hat", sagt Tolus Anwältin Kader Tonc im DW-Interview. Die Ankläger der Journalistin lasten demnach unter anderem die Teilnahme an Gedenkfeiern für Aktivisten an, die in Syrien gestorben waren. Dabei handele es sich um Menschen, die im Kampf gegen die dschihadistische Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) getötet wurden. Belastet werde die Journalistin zudem von einem anonymen Zeugen. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 bringt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kritische Medien mit Repressionen systematisch zum Schweigen.
Als Beobachter im Verhandlungssaal nahmen neben der Linke-Abgeordnete Hänsel auch der deutsche Botschafter Martin Erdmann und der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff teil.
Acht Deutsche weiterhin in Haft
Tolu war am 30. April bei einer Razzia in ihrer Wohnung festgenommen worden. Zuletzt hatte sie für die linke Nachrichtenagentur "Etkin News Agency" (Etha) gearbeitet. Tolu hat türkische Wurzeln, besitzt seit 2007 allerdings nur noch die deutsche Staatsangehörigkeit.
Sie ist eine von mindestens neun Deutschen, die aus politischen Gründen in der Türkei inhaftiert sind und deren Freilassung die Bundesregierung forderte. Namentlich bekannt aus dieser Gruppe ist neben Tolu nur der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel, der seit Februar ohne Anklage in U-Haft sitzt. Zuletzt war am 26. Oktober der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner aus der U-Haft entlassen worden, was als Zeichen der Entspannung im belasteten deutsch-türkischen Verhältnis gewertet worden war. Steudtner war am Tag darauf nach Berlin ausgereist. Sein Verfahren in Istanbul wird aber fortgesetzt.
Die Journalistenorganisation "Reporter ohne Grenzen" forderte die türkische Justiz auf, die Anschuldigungen gegen Tolu fallen zu lassen. Sie bleibe eine politische Geisel der Türkei, solange sie das Land nicht verlassen dürfe, sagte der Geschäftsführer der Organisation, Christian Mihr. Er hofft zudem, dass die Justiz auch gegen den seit Februar inhaftierten Journalisten Yücel bald eine Anklageschrift vorlegt.
stu/se (afp, dpa, epd)