Wir sind Kulturnation! Tatsache oder Behauptung?
14. September 2017"Wir sind Kulturnation!" beschwor Innenminister Thomas de Maizière (CDU) vor wenigen Monaten das Land in seinen ansonsten heftig umstrittenen Thesen zur Leitkultur. Und Berlins linker Kultursenator Klaus Lederer verstieg sich bei der Eröffnung eines Klassikfestivals gar dazu, Kunst und Kultur zu den "schärfsten Waffen gegen den Terrorismus" zu erklären.
Wenn es etwas gibt, das deutsche Politiker auch in Wahlkampfzeiten noch verbindet, dann ist es der Glaube an die Macht von Musik und Literatur. Ein stiller Konsens, der sich quer durch alle Parteien im Bundestag zieht und der dafür sorgt, dass die Subventionen fließen: so beschloss die große Koalition aus CDU und SPD noch vor der Sommerpause, die seit Jahren wachsende Kulturförderung des Bundes im kommenden Jahr gleich noch einmal um satte 23 Prozent auf 1,67 Milliarden Euro zu erhöhen.
Land der Dichter und Denker
Deutschland ist stolz auf seine Kulturlandschaft. Die beste der Welt, meinen viele. Zu Recht? Wer sich 2017 auf einen fiktiven Flug über das Land der Dichter und Denker, der Musiker und Künstler begibt, der sieht von oben vor allem: viel! 2.117 Verlage und 3.803 Buchhandlungen, 42 UNESCO-Welterbestätten, 1.654 Kinos mit 4.739 Kinosälen, 142 Staats- und Stadttheater mit rund 40.000 Mitarbeitern in 825 Spielstätten, 12.000 öffentliche Bibliotheken, 931 Musikschulen mit 1,4 Millionen Schülern, 29 Kunsthochschulen, 9.804 Galerien und Kunsthandlungen, 6.372 Museen - die Liste ließe sich endlos weiterführen.
Wo ältere Jahrgänge gerne noch bildungsbürgerlich von der "Kulturnation" sprechen - Bayreuth, Weimar, Elbphilharmonie im Sinn - ziehen Ökonomen und Kulturmanager längst den zeitgemäßeren Begriff der Kreativwirtschaft vor. Die passt besser zu digitalem Denken, liefert messbare Daten statt elitärer Kunstkritik und gilt als dynamisch und wachstumsstark. Das hat auch die Bundesregierung erkannt und schwärmt, dass Kultur- und Kreativwirtschaft "wie kaum eine andere Branche für ein modernes Deutschland" stünden.
Wenig Mut, wenig Kreativität?
Kultur ist ein Haupttriebwerk im Maschinenraum deutscher Soft Power. Weit über zehn Milliarden Euro investieren Bund und vor allem Länder jährlich in die Kulturmaschinerie - in Jugendtheater, Musikschulen, Kammerorchester, Denkmalsanierung oder Museumsneubauten. Umgerechnet 123 Euro pro Bürger - der Preis eines mittleren Buchregals aus Schweden.
Viel Geld, viele Arbeitsplätze, viel Kreativität? Nein, befindet das Nachrichtenmagazin "Spiegel" in einem Deutschland-Sonderheft zur Bundestagswahl: "Zu wenig für ein so reiches, großes Land. Zu wenig Mut, zu wenig Liebe, zu wenig kreatives Risiko". Solides Mittelmaß herrschten in Kunst und Kultur: einfallslose Architektur, austauschbare Krimi-Bestseller statt großen Romanen, kraftlose Intellektuelle. Aber wer den "Fetisch Kulturstaat" in Frage stellt, hat es schwer in Deutschland.
Fetisch Kulturstaat?
Eine Streitschrift von vier Kulturwissenschaftlern ("Der Kulturinfarkt") nahm 2012 das Wagenburg-Denken einer hochsubventionierten Branche ins Visier, die vor allem an ihrem Selbsterhalt arbeite. Debattiert wurde das nicht. Kultur einem kreativen Wettbewerb aussetzen und öfter am Erfolg messen? Das klang nach neoliberalem Ausverkauf der schlimmsten Sorte. Nicht im Kulturland Deutschland, bitte!
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