Deutsche Serienqualität: "Das Verschwinden"
22. Oktober 2017Nicht jede gute deutsche Fernsehserie hat sich in den vergangenen Jahren bei den hiesigen Zuschauern durchgesetzt. Vielleicht gibt es sogar mehr Beispiele für künstlerisch gelungene Serien, die beim Publikum gescheitert sind, als Beispiele für ästhetisch überzeugende Formate, die zum Zuschauererfolg wurden. Man muss gar nicht an Edgar Reitz monumentale Fortsetzung seines Welterfolgs "Heimat" (1984) erinnern. Mit den 13 Folgen seiner "Zweiten Heimat - Chronik einer Jugend" stieß Reitz 1992 an Grenzen: Bei den produzierenden Fernsehanstalten und auch bei den Zuschauern - wiewohl unbestritten ist, dass gerade die "Zweite Heimat" zu den herausragenden deutschen Serien der Nachkriegsgeschichte zählt.
Weltweiter Serien-Boom seit Anfang des Jahrtausends
Auch der weltweite Serien-Boom, der unter anderem mit dem US-amerikanischen Format "The Sopranos" mit Beginn des neuen Jahrtausends einsetzte, hatte nicht zwangsläufig zur Folge, dass sich deutsche Zuschauer offen für anspruchsvolle heimische Serien zeigten. Dominik Grafs "Im Angesichts des Verbrechens" aus dem Jahre 2010 ist ein gutes Beispiel: Das in Berlin angesiedelte Polizei- und Mafia-Epos in mehreren Teilen, von Graf und seinen Autoren und Schauspielern großartig in Szene gesetzt, wurde von den Sendern schnell auf spätabendliche Ausstrahlungs-Zeiten verbannt. Zu wenig Quote, hieß es - Qualität spielte bei dieser Programmpolitik keine Rolle mehr.
Vielleicht auch deshalb, weil deutsche Sender zu vorsichtig und mutlos agieren, setzen in jüngster Zeit große internationale Anbieter wie Netflix, Amazon Prime und Sky auch und verstärkt auf den deutschen Markt - und produzierten Serien wie "You are Wanted" oder "Dark".
Doch es gibt glücklicherweise auch Gegenbeispiele. "Weissensee" über zwei ostdeutsche Familien könnte man aufzählen - und natürlich auch "Babylon Berlin", die Serie wird derzeit zunächst auf "Sky" ausgestrahlt. In erster Linie wurde sie aber mit deutschen Geldern produziert, auch von den öffentlich-rechtlichen Anstalten.
Acht Folgen Spannung und Tiefe: "Das Verschwinden"
Mit dem Start von Hans-Christian Schmids Serie "Das Verschwinden" (ab 22.10. in der ARD) wird nun ein weiteres Kapitel deutscher Serienvielfalt aufgeschlagen, dem ein Erfolg zu wünschen ist. In den acht Folgen erzählen Schmid und sein Autor Bernd Lange eine Geschichte, die eine beträchtliche Sogwirkung entwickelt: Eine allein erziehende Mutter (großartig: Julia Jentsch) macht sich im deutsch-tschechischen Grenzgebiet auf eigene Faust auf die Suche nach ihrer verschwundenen 20-jährigen Tochter. Diese war, wie ihre beiden engsten Freundinnen auch, in Drogengeschäfte verwickelt.
Regisseur Hans-Christian Schmid: "Michelle ist eine alleinerziehende Mutter, die versucht, ihren schwierigen Alltag einigermaßen zu meistern. Eine im besten Sinn durchschnittliche Frau, die von dem, was ihr widerfährt, total überfordert ist. Sie stolpert in diese Geschichte hinein, von Tag zu Tag wird ihr bewusster, dass ihre Tochter nicht einfach so wieder auftauchen wird."
Neben dieser mit klassischen Krimi-Elementen aufgeladenen Story bietet "Das Verschwinden" einen tiefen Einblick in das Leben mehrerer am Fall beteiligter Familien in der deutschen Provinz. Hinter der mühsam aufrecht erhaltenen Fassade zeigen sich tiefe Risse in den Familienstrukturen. Auch der Konflikt zwischen den verschiedenen Generationen schiebt sich im Laufe der Handlung mehr und mehr neben den Krimi-Plot.
Schmid: "Handlungsorientierter Thriller und Beschreibung kleinstädtischen Lebens"
"Der übergreifende Spannungsbogen der Krimihandlung hält die einzelnen Erzählstränge, die sich mit den Familien beschäftigen, zusammen", sagt Schmid. Sie hätten die "besten Elemente eines handlungsorientierten Thrillers mit einer präzisen Beschreibung vom kleinstädtischen Leben in der Gegenwart verbinden" wollen: "Es ging uns um die Beschreibung der Familien und das Verhältnis der Generationen zueinander."
"Unser erzählerischer Fokus liegt darauf, sichtbar zu machen, woher die tief im Inneren verborgene Verunsicherung junger Menschen kommt", so der Regisseur. Schmid, der sich in den vergangenen Jahren mit einer Reihe aufsehenerregender Kinofilme ("23 - Nichts ist so wie es scheint", "Requiem", "Sturm", "Was bleibt") in die erste Liga deutscher Regisseure katapultiert hat, stellt in seiner Serie wichtige Fragen:
"Eine junge Generation, der die Lebensentwürfe oder Werte der Elterngeneration nicht erstrebenswert erscheinen. Im Grunde bräuchten sie sich nur ins gemachte Nest zu setzen, wollen das aber offenbar gar nicht. Die Frage ist: Warum gelingt dem einen nicht, was für den anderen fast selbstverständlich scheint? Ein halbwegs zufriedenes, vielleicht sogar glückliches und erfülltes Leben zu führen. Warum brechen die Jugendlichen mit dem Fortschrittsgedanken der Eltern?"
Presse-Urteil: "Nichts weniger als eine Sensation"
Bleibt zu hoffen, dass sich die deutschen Zuschauer auf die anspruchsvolle Serie "Das Verschwinden" einlassen. Die Reaktionen beim Münchner Filmfest, wo erste Folgen der Serie im Sommer uraufgeführt wurden, waren zumindest vielversprechend. Die "Süddeutsche Zeitung" schrieb: "Die Krimiserie ist - so viel Superlativ muss sein - nicht weniger als eine Sensation. Ein großer Wurf. Und zwar für jedes Fernsehen der Welt."
"Das Verschwinden" läuft am 22., 29., 30. und 31. Oktober jeweils in Doppelfolgen im Ersten Deutschen Fernsehen. Mehr zur Serie "Babylon Berlin" in der neuen Ausgabe von KINO. Darin auch der neue "Fack you Göhte"-Film und eine Neuauflage des Klassikers "Mord im Orient-Express".