Im Jemen: "Ich höre draußen täglich Schüsse"
9. März 2020Im medialen Schatten Syriens tobt im Jemen seit fünf Jahren ein Krieg. Dort kämpft ein von Saudi-Arabien angeführtes Militärbündnis gegen die schiitischen Huthi-Rebellen, die vom Iran unterstützt werden. Mehr als 90.000 Menschen sind seit 2015 durch Kämpfe ums Leben gekommen. Trotz einer seit fünf Monaten andauernden Entspannungsphase gibt es Anzeichen dafür, dass sich der Konflikt wieder verschärft.
Die Huthi-Rebellen haben erneut Ziele in Saudi-Arabien angegriffen und die saudische Luftwaffe nimmt wieder Kurs auf Jemens Hauptstadt Sanaa. In der vergangenen Woche haben die Rebellen Hasm - eine strategisch wichtige Stadt - eingenommen. Das könnte laut Experten den Verlauf des Krieges noch einmal ändern. Doch egal, wie es weitergeht, eines ist sicher: Es sind die jemenitischen Zivilisten, die den höchsten Preis für die Kämpfe zahlen.
Die DW sprach mit Götz Gerresheim über die Lage im Jemen. Der Deutsche ist als Anästhesist für die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" im Süden des Landes Einsatz.
DW: Herr Gerresheim, Sie arbeiten seit fast einem Monat in einer Unfallklinik in der jemenitischen Stadt Aden. Welchen Eindruck haben Sie von der dortigen Situation?
Götz Gerresheim: Die Lage ist stabil, aber alle sind darauf vorbereitet, dass sich das ändern kann. In der Stadt Aden könnte es jederzeit zu neuen Kämpfen kommen. Ich darf das Krankenhaus nicht verlassen und fünf, sechs oder sieben Mal am Tag höre ich draußen Schüsse. Daran musste ich mich erstmal gewöhnen - obwohl das hier schon meine sechste Mission ist. Manchmal fällt nur eine einziger Schuss, manchmal wird ein ganzes Magazin abgefeuert. Innerhalb des Krankenhauses müssen Besucher ihre Kalaschnikows vor der Tür lassen.
In unserem Krankenhaus behandeln wir ständig etwa 60 bis 70 Patienten. 80 Prozent davon kommen mit Schussverletzungen - in den meisten Fällen von mehreren Kugeln. Es gibt auch Teams von "Ärzte ohne Grenzen", die viel näher an der Frontlinie arbeiten - zum Beispiel in Mokka oder Al Bayda. Sie behandeln vor allem starke Blutungen, perforierte Organe und solche Sachen. Jeden Tag werden zwei bis drei Patienten aus diesen Feldlazaretten nahe der Frontlinie zu uns gebracht. Sie wurden meist durch Bomben und Sprengkörper verletzt - Erwachsene und Kinder.
Wie sieht es mit Landminen aus?
Hier sind es eher Bombensplitter, die überall in den Körper eindringen. Diese Patienten müssen wir wieder und wieder operieren, bis alle Wunden sauber sind. Aber was mich wirklich schockiert, ist, wie viele Patienten mit multi-resistenten Keimen wir hier haben, also Bakterien, gegen die es keine wirksamen Antibiotika gibt. In meinem Krankenhaus in Deutschland haben wir maximal zwei Fälle pro Jahr, und dann geraten alle in Panik. Hier in Aden lösen solche Erreger 60 Prozent der Infektionen aus. Diesen Patienten können wir nicht helfen, sie sterben alle.
Sie waren auf insgesamt sechs Einsätzen, darunter kürzlich auch in Syrien. Wie sieht die Lage im Jemen im Vergleich dazu aus?
Unsere Einsätze dauern jeweils nur vier Wochen. Aber als einziger Anästhesist bin ich 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche im Dienst. In Syrien war ich etwa zwei Autostunden nördlich von Raqqa stationiert. Dort haben wir eigentlich nur Verletzungen, die durch Sprengsätze wie Handgranaten verursacht wurden, behandelt. Als der "Islamische Staat" aus der Stadt vertrieben wurde, ließen die Kämpfer überall versteckte Sprengsätze zurück - auch in Puppen und Teddybären.
Es war in Syrien also genau umgekehrt: 80 Prozent der Verletzungen stammten von Sprengkörpern und Bomben. So viele Schusswunden wie hier in Aden habe ich bei keinem meiner Einsätzen gesehen. Besonders im Norden tragen die Menschen ihre Waffen wie andere eine Uhr. Und sie benutzen sie auch.
Etwa 80 Prozent der 30 Millionen Menschen im Jemen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die USA erwägen, die Hilfen für den Norden des Landes zu kürzen. Dort wollen die Huthi-Rebellen mehr Kontrolle über die Verteilung der Hilfsgüter. Welche Auswirkungen könnte das Ihrer Meinung nach haben?
Der Luftraum über Jemen wurde fast vollständig abgeriegelt. Es gibt keine Lieferungen auf dem See- oder Landweg. Selbst für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen ist es sehr, sehr schwierig, Hilfsgüter zu liefern. Ich sehe, dass Patienten, die aus den nördlichen Gebieten zu uns kommen - vor allem die Kinder - stark unterernährt sind. Und wenn ich das mit meinen anderen Einsätzen vergleiche, scheint mir, dass wir mit "Ärzte ohne Grenzen" hier allein dastehen. Im Norden Syriens waren auch nicht viele Hilfsorganisationen vor Ort. An anderen Einsatzorten, wie im liberischen Monrovia, hielten sogar während des Krieges viele Organisationen die Stellung. Was erwarte ich also, wenn die wenige Hilfe, die hier ist, wegfällt? Es wird eine Katastrophe geben.
Götz Gerresheim ist Anästhesist in einem Krankenhaus in Bayern. Derzeit ist er für die internationale Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" im Jemen.
Das Interview führte Tom Allinson.